Entwicklungslinien und Gestaltungsmöglichkeiten

In immer mehr Bundesländern setzt sich der Trend zu integrierten Schulformen neben dem Gymnasium durch. Welche Variationen liegen vor? Was spricht für und was gegen ein Zwei-Wege-Modell? Welche Probleme und Chancen ergeben sich für die Schulgestaltung vor Ort?

Die »Revolution von Fehmarn« (Spiewak 2007) hat Deutschland die erste Gemeinschaftsschule beschert. Ausgangspunkt war die absehbare demografische Entwicklung auf der Insel und der Wille der Kommune, weiterhin alle Schulabschlüsse auf Fehmarn anzubieten. Darauf folgten zwei Jahre harter Auseinandersetzungen und gleichzeitig intensiver Konzeptarbeiten an einem neuen, alle Schüler integrierenden Schultyp, unterstützt durch eine neue Landespolitik, die Gemeinschaftsschulen ermöglichte. Drei Jahre später zieht die Inselschule Fehmarn mit über 1 000 Schülern in ein neues Gebäude und lässt ihre Geschichte als Hauptschule, Realschule und Gymnasium hinter sich.

Nicht überall läuft es so gut, wenn es um die Etablierung einer ganz neuartigen Schule geht, die nicht zusätzlich zum bisherigen Schulangebot »auf der grünen Wiese« entsteht, sondern vorhandene Schulen ersetzt und sich durch Fusion zweier oder mehrerer Schulen bei gleichzeitiger oder sukzessiver Umwandlung zu etwas Neuem entwickelt.

Das Anliegen dieses Heftes ist es, an mehreren Beispielen die Entwicklung und Ausgestaltung neuer Sekundarschulen nachzuzeichnen, die jeweiligen Besonderheiten und He­rausforderungen deutlich zu machen und die spezifischen Problemlösungen der Akteure vor Ort vorzustellen. Interessant könnte dies sein für Schulleitungen, Kollegien und Elternvertreter von Schulen, die sich in vergleichbaren Entwicklungsprozessen befinden oder sie vor sich haben. Denn sie, zusammen mit Kommunalpolitikern, geben die Anstöße für diese Schulentwicklung neuen Typs und wirken bei der Ausgestaltung entscheidend mit. Insofern korrespondiert dieses Heft mit PÄDAGOGIK Heft 5/2010, das sich – schulform­unabhängig – mit dem »Umbau der eigenen Schule« beschäftigt.

Um welche Schulen geht es hier?

Die Suche nach der richtigen Begriffsbestimmung macht schon ein Dilemma deutlich: Nirgendwo auf der Welt – die Schweizer Kollegen mögen vielleicht korrigieren – gibt es so viele unterschiedliche Bezeichnungen für Schulformen in der Sekundarstufe I wie in Deutschland. Ein Blick auf die aktuelle Darstellung des Bildungswesens auf der Homepage der Kultusministerkonferenz offenbart neben den klassischen Schulformen Hauptschule, Realschule, Gymnasium und Gesamtschule folgende Angebote (Auswahl): Mittelschule, Werkrealschule, Oberschule, Sekundarschule, Stadtteilschule, Regionalschule, Gemeinschaftsschule, Regelschule. Eines jedenfalls haben alle Schularten in der Sek. I, die nicht Hauptschule, Realschule oder Gymnasium sind, gemeinsam: Sie sind »Schularten mit mehreren Bildungsgängen« (KMK 2006, S. 7), die – in unterschiedlich integrierter beziehungsweise differenzierter Form – zu unterschiedlichen Bildungsabschlüssen führen.

Der KMK-Beschluss vom 2.6.2006 legt die Anforderungen für äußere Leistungsdifferenzierung fest, benennt aber auch Ausnahmemöglichkeiten: »Aus demografischen beziehungsweise schulstrukturellen Grün­den können in den genannten Fächern klasseninterne Lerngruppen auf weitere Jahrgangsstufen ausgedehnt werden.« (ebd.). Diese Ausnahmeregelung liefert die formale Berechtigung für Schularten der Sekundarstufe I, die je nach dem eigenen Schulkonzept ganz oder weitgehend integrativ arbeiten und binnendifferenziert unterrichten. In einigen Ländern ist damit eine Flurbereinigung in der Sekundarstufe I verbunden – neben dem Gymnasium gibt es nur noch eine Schulform. In anderen Ländern tritt die neue integrierte Schulform neben die bisherigen, z. T. mit der politischen Absicht, diese längerfristig zu ersetzen (z. B. in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg). Die Tabelle im Beitrag von Tillmann stellt dazu den aktuellen Stand dar (vgl. S. 11).

Das Zwei-Wege-Modell

Die Reduzierung der Schulformen in der Sekundarstufe I auf eine integrierte Schulform neben dem Gymnasium hatte bereits vor über 20 Jahren der Bielefelder Jugendforscher Klaus Hurrelmann in seinem Offenen Brief vom 28.10.1991 an die deutschen Kultusminister propagiert. Er argumentiert hauptsächlich mit dem fortschreitenden Niedergang der Hauptschulen und den sich verschlechternden Chancen ihrer Absolventen am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt.

Auch wenn es – aus unterschiedlichen Gründen – Anzeichen dafür gibt, dass der deutsche Schulformzug in diese Richtung fährt, fehlt es auch nicht an Kritik an dieser Entwicklung. Zuerst natürlich von denen, die noch immer an die Rettung der Hauptschule oder den Vorteil einer eigenständigen Realschule glauben. Daneben die Verfechter der »Schule für alle«, für die das neue System »eine modernisierte Form der Ständeschule darstellt: für einen neuen großen Mittelstand das Gymnasium, für eine breite und ökonomisch in prekären Verhältnissen lebende Unterschicht die neue Sekundarschule und für die Behinderten und sozialen Randgruppen … das Ghetto der Sonderschulen.« (Preuss-Lausitz 2008, S. 18).

Was geht und was nicht

Zwei politische Entscheidungen in einem Stadtstaat – beide Male nicht von der Regierung, sondern von Bürgern getroffen – lassen sich als Indizien dafür anführen, was auf absehbare Zeit in der Schulstrukturfrage geht und was nicht geht: Im Oktober 2008 ist in Hamburg das Volksbegehren der Initiative »Eine Schule für alle« gescheitert, weil die rund 62 000 nötigen Unterschriften für das Zustandekommen eines Volksentscheids nicht erreicht wurden. Dagegen fand der Volksentscheid der Initiative »Wir wollen lernen« im Juli 2010 gegen die sechsjährige Primarschule eine deutliche Mehrheit, obwohl alle in der Bürgerschaft (Landesparlament) vertretenen Parteien, die Gewerkschaften und Kirchen die Primarschule unterstützten.

Erkennbar sind zwei Hauptursachen für diesen Ausgang des Volksentscheids: Neben der mangelnden Mobilisierbarkeit derjenigen, die vom längeren gemeinsamen Lernen vermutlich am meisten profitieren würden, ist es die offensichtliche Unantastbarkeit des Gymnasiums.

In einer Stadt, in der die Hälfte eines Schülerjahrgangs nach Klasse 4 ans Gymnasium wechselt, ist diese Schulform keine elitäre Einrichtung mehr, sondern wird als »normal« und Garant für Aufstieg oder zumindest für gute Optionen empfunden. Das gilt auch für aufstiegsorientierte Migranteneltern. Und dieses Gymnasium wäre durch die Primarschule um zwei Jahrgänge verkürzt worden. Das wollte die Mehrheit nicht. Dagegen war die andere strukturelle Maßnahme der Hamburger Schulreform, die Einführung der »Stadtteilschule« als zweite Säule neben dem Gymnasium, völlig unumstritten.

Die Regierungskoalitionen nach den letzten Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen (rot/grün) und Baden-Württemberg (grün/rot) haben nicht zuletzt wegen der Hamburger Erfahrungen auf andere Implementationsstrategien umgestellt. Statt landesweit gültiger politischer Entscheidungen zur Einführung neuer und Abschaffung bisheriger Schulformen setzt man auf den Gestaltungswillen der Kommunen als Schulträger und der Schulen selbst, ergänzt um Anreize wie kleine Klassen, Ganztagsausstattung sowie weitgehende Autonomie bei der Bestimmung der Differenzierungsformen.

Das erste Konzept dieser Art wurde 2004 von Rösner für Schleswig-Holstein vorgelegt (Rösner 2004) und 2007 durch die damalige große Koalition in Kiel umgesetzt. Zusätzlich setzte die CDU die Regionalschule als Zusammenschluss der Haupt- und Realschulen und damit als Gegenmodell zur Gemeinschaftsschule durch. Inzwischen zeigt sich ein klarer Trend bei den Elternentscheidungen: 38,6 Prozent der Viertklässler wechselten im letzten Jahr auf ein Gymnasium, 44,6 Prozent auf eine Gemeinschaftsschule und 13,5 Prozent auf eine Regionalschule. Bei individuellen Entscheidungen spricht vermutlich die Abituroption für die Gemeinschaftsschule. Für die Kommunen als Schul­träger spielen demografische (vgl. Fehmarn), raumstrukturelle und fiskalische Gründe die entscheidende Rolle, die politischen Mehrheiten dagegen keine (vgl. Wiechmann 2008).

Zu den Beiträgen

Weil derzeit viele Entwicklungen im System der Sekundarstufe I im Gange sind, wird im Beitrag von Tillmann zunächst eine Begriffserklärung mit historischem Rückblick unternommen, gefolgt von einer Darstellung der Varianten und Perspektiven der Zweigliedrigkeit samt einer übersichtlichen Tabelle.

Es folgen Erfahrungsberichte von Sekundarschulen aus mehreren Bundesländern mit unterschiedlichen Vorgeschichten, Prägungen und Ent­wicklungsständen:

  • Im Bericht der Inselschule Fehmarn steht die praktische Umsetzung der vorangegangenen Konzeptarbeit im Vordergrund (vgl. den Beitrag von Schmeiser).
  • Die Gemeinschaftsschule Rheinberg gewährt einen Einblick in ihre Gründungsphase und zeigt die Chancen, die bei der Personalentwicklung und Qualifizierung gegeben sind (vgl. den Beitrag von Giesen).
  • Die Stationen eines komplizierten Fusionsprozesses zeichnet der Beitrag von Wiegleb nach und benennt gleichzeitig günstige Rahmenbedingungen, die Berlin für seine Gemeinschaftsschulen vorhält.
  • Im Beitrag von Wendland wird die neue Qualität von Berufsorientierung als einem Markenzeichen der Hamburger Stadtteilschulen deutlich.
  • Höhmann/Unseld/Krehl zeigen abschließend die Möglichkeiten und Grenzen einer Kommune auf, die aktiv Schulentwicklung betreibt.

Literatur

  • Kultusministerkonferenz (KMK) (2006): Vereinbarung über die Schularten und Bildungsgänge im Sekundarbereich I. Beschluss der KMK vom 2.6.2006
  • PÄDAGOGIK H. 5/2010: Die eigene Schule umbauen
  • Preuss-Lausitz, Ulf (2008): Gemeinschaftsschule als Antwort auf die Krise der Schule. In: Preuss-Lausitz, Ulf (Hg.): Gemeinschaftsschule – Ausweg aus der Schulkrise. Weinheim
  • Rösner, Ernst (2004): Veränderungen der Schulstruktur in Schleswig-Holstein als Konsequenz demografischer und gesellschaftlicher Entwicklungen. Gutachten des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS) der Universität Dortmund
  • Spiewak, Martin (2007): Die Revolution von Fehmarn. In: Die Zeit Nr. 29 vom 12.07.2007
  • Wiechmann, Jürgen (2011): Die Einrichtung von Gemeinschaftsschulen in Schleswig-Holstein – der Kontext des Systemwandels in lokaler Entscheidung. In: ZfPäd H. 4/2011, S. 545

Dr. h. c. Peter Daschner, Jg. 1944, war bis 2010 Direktor des Hamburger Landesinstituts für Lehrerbildung und Schulentwicklung (LI).
Adresse: Am Pfeilshof 35, 22393 Hamburg
E-Mail: peter.daschner(at)hamburg.de


Aus: Pädagogik 5/2012