Ein bescheidener Vorschlag zur Abschaffung von Ängsten und Wunschträumen über »Fordern«

Darf man in der Schule (wieder) fordern? Muss man es gar? Welches Fordern ist für Schüler hilfreich beziehungsweise schädlich? Wie viel Fordern muss sein? – Will man Antworten auf diese Fragen, gerät man schnell in ideologische und bildungspolitische Grabenkämpfe. Um das zu vermeiden, redet man lieber von »Fördern und Fordern«. Aber bleibt mit dieser Entschärfung die zentrale Frage nicht ungelöst: »Wie hältst du es mit dem Fordern?«

Spätestens seit der Rede des früheren Bundespräsidenten Roman Herzog vor dem Berliner Bildungsforum vom 5. November 1997 wurde »Fordern« wieder Thema in der Bildungspolitik. Herzog sprach sich für ein Bekenntnis zur Werteerziehung und einer Pädagogik der Anstrengung aus: »Es gibt keine Bildung ohne Anstrengung. Wer Noten aus den Schulen verbannt, schafft Kuschelecken …« und: »Zugleich müssen sich unsere Bildungsinstitutionen wieder darauf besinnen, dass man Leistung nicht fördern kann, ohne sie auch zu fordern.« (Herzog 1997) Herzog sah Fordern als ein entscheidendes Mittel der Persönlichkeitsbildung. Dadurch sollte bei jungen Menschen die Einsicht erreichen werden, dass ein Leben ohne Anstrengung nicht gehe und dass Freiheit anstrengend sei.

Lange kam die Auseinandersetzung, wie denn nun Fordern in der Schule und im Unterricht erfolgen sollte, nicht mehr aus der Ecke der defizitorientierten Werteorientierung heraus: Wer »Fordern« propagierte, wurde angesehen als jemand, der

  • mit der Leistung (und z. T. auch Struktur) des gegenwärtigen Bildungssystems und der dort vermittelten Bildung überhaupt nicht zufrieden war;
  • in Vermittlung von Werten, sozialen Kompetenzen und Tugenden (wie Verlässlichkeit, Pünktlichkeit, Disziplin und Respekt) eine zentrale Aufgabe der Schule und Pädagogen (Vorbild!) sah;
  • für das gegliederte Schulsystem eintrat, in dem der Schulform entsprechend die Begabung gefordert werden soll.

In der Konsequenz wurde »Fordern« in der Schule als eine Haltung und ein Anspruch definiert, anderen (Kindern und Jugendlichen) etwas abzufordern, Forderungen an sie stellen zu müssen.

In dem 2004 durch die sozialdemokratische Justizministerin Zypries unter der Leitlinie »Fördern durch Fordern« eingebrachten neuen Jugendstrafvollzugsgesetz zeigte sich dann, dass »Fordern« auch weitergehend verstanden werden kann: Es ging auch darum, dass derjenige, der fordert, Verantwortung übernehmen muss dafür, dass die Forderungen erreichbar sind und zur Weiterentwicklung beitragen: Wer fordert, übernimmt Verantwortung für die Angemessenheit und Vertretbarkeit der Forderung.

2006 tauchte dann der Begriff »Fordern« zum ersten Mal an zentraler Stelle in der Bildungspolitik auf: »Fördern und Fordern – eine Herausforderung für Bildungspolitik, Eltern, Schule und Lehrkräfte« heißt die gemeinsame Erklärung der Bildungs- und Lehrergewerkschaften und der Kultusministerkonferenz (2006). Hier wurde Fordern in unauflöslicher Kopplung mit Fördern zu einem »Prinzip« in Schule und Unterricht, das

  • helfen soll, dass Lehrkräfte sich stärker den einzelnen Schülern widmen können;
  • bei Schülern und Eltern und in der Gesellschaft zu einem positiveren Verständnis von Lernen und Leistung führen soll;
  • helfen kann, die Ergebnisse interner und externer Evaluation in schulische Qualitätsentwicklung und individuelle Förderung einzubeziehen;
  • dafür sorgen soll, einzelne Phasen der Bildungsbiographie miteinander zu verzahnen.

Fördern und Fordern – eine Herausforderung: aber wie?

In dieser gemeinsamen Erklärung, die zwei Jahre später nur knapp im Rahmen einer Tagung evaluiert wurde, wird der Aspekt des Forderns übrigens nicht weiter aufgegriffen: Was Fordern (im Unterschied zu Fördern) leisten soll, wird ebenso wenig erklärt wie die durchgehende Kopplung der beiden Begriffe. Nur indirekt wird deutlich, was »Fordern« bedeuten könnte:

  • Ausrichtung von Ausbildung und Erziehung an definierten Bildungs- und Erziehungszielen
  • Verdeutlichung von Forderungen über Monitoring, Vergleichsarbeiten, Standards
  • Etablierung einer auch fordernden Lehr- und Lernkultur
  • Arbeit in entsprechend pädagogischen Erfordernissen zusammengesetzten Lerngruppen

Wichtiger ist noch der symbolische Wert der Kopplung von Fordern an den Begriff »Fördern«. So kann signalisiert werden, dass mit Fördern kein Senken der Ansprüche gemeint ist, sondern vielmehr auch eine Einforderung von Anstrengungs- und Leistungsbereitschaft: Wer gefördert werden will (oder muss), der muss auch etwas leisten, der muss sich anstrengen. Damit sind wir (fast) wieder bei Roman Herzogs Rede von 1997 angelangt. Fordern erscheint als Bedingung oder Gegengewicht zur Förderung: Wer Förderung bekommen will, muss Gegenleistungen bringen. Oder: Wer fördert, der darf auch fordern.

Perspektivwechsel: »Fordern« aus der wertkonservativen Ecke holen

Blickt man zurück, wie Fordern bisher überwiegend verstanden wurde, wird es fast immer definiert als Bedingung für Förderung beziehungsweise als Forderung: Erwachsene beziehungsweise die Schule oder das Bildungssystem stellen Forderungen an Schüler, die diese erfüllen müssen (im besten Falle mit Hilfe von Förderung).

Aber Fordern lässt sich ganz anders sehen und definieren: Es kann von Fördern und Forderung entkoppelt und weiter gefasst werden. Voraussetzung für einen solchen Per­spektivwechsel ist, Fordern als Handlung zu sehen, die Schüler, Lehrkraft, Eltern und Schule gemeinsam leisten und gestalten.

Dieser Ansatz geht davon aus, dass Fordern eine zweiseitige Handlung voraussetzt (vgl. Abb. 1): Fordern wahrzunehmen und anzunehmen
erfordert, dass überhaupt eine Kommunikationsebene besteht, auf der etwas gefordert werden kann, und dass Handlungsmöglichkeiten, -spielräume beziehungsweise nachvollziehbare Bedingungen oder Zwänge für Fordern bestehen. Viele Bemühungen, Schüler zu fordern, scheitern, weil Lehrkräfte sich nicht genügend damit auseinandersetzen, ob überhaupt Grundlagen dafür vorliegen, dass Anforderungen angenommen werden. Am schwierigsten und häufig auch am unangenehmsten ist oft der nächste Schritt: die Deutung der Forder-Erwartung:

Was vielleicht vom Lehrer als Angebot geäußert wird, erscheint dem Schüler als unmittelbarer Zwang: Er muss sich fordern lassen, wenn er etwas Bestimmtes erreichen oder vermeiden will. Im nächsten Schritt muss er sich zu seinen Bedingungen und den Anforderungen der Lehrkraft auf diesen Forder-Prozess einlassen. Dazu gehört die Überzeugung, dass er in der Lage sein könnte, diese Anforderung zu leisten oder Bedingungen für die Umsetzung zu formulieren. Weiterhin gehört die Einsicht dazu, dass eine Handlungsnotwendigkeit für ihn/die Lehrkraft besteht. Setzt sich der Schüler dann mit der Forderung auseinander und bewältigt beziehungsweise bearbeitet sie, wird für beide Beteiligte sichtbar, welche Forderungen man einander (nicht) stellen kann, was Zumutung, Überforderung oder Ermöglichung ist. Diese Erfahrung wirkt sich beidseitig auf zukünftige Forder-Situationen aus und kann beispielsweise zu neuen oder anderen Forder-Ansprüchen oder Angeboten führen.

Sich selbst fordern lernen – durch gefordert werden

Diesen Prozess der Auseinandersetzung mit Forder-Erwartungen oder -Vorgaben immer wieder zu durchlaufen, hilft, sich mit Ansprüchen des Gegenübers auseinanderzusetzen. Es ist gleichzeitig auch eine wichtige Lernerfahrung, sich selbst zu fordern, eigene Gestaltungs- und Verhaltensspielräume zu erkunden. Dies gilt für Schüler wie Lehrkraft gleichermaßen: Beide müssen testen, wie weit gefordert werden beziehungsweise der Forder-Horizont erweitert werden kann, damit Fordern nicht zur Überforderung wird.

Einzuschätzen, was man von sich oder von jemand anderem fordern kann (als Schüler oder Lehrkraft), setzt Erfahrung und klar erkennbare Strukturen voraus. Ist nicht klar oder unberechenbar, worin die Forderung und die daraus folgende Konsequenz bestehen (vgl. Schritte  und ), wird sie auch nicht angenommen und zur schlechten Lernerfahrung. Wer fordert, muss dafür sorgen, dass man über sich lernen kann, wie man Anforderungen bewältigt beziehungsweise angemessen Forderungen stellt.

In der Lage (und bereit) zu sein, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten anzustrengen, konsequent zu arbeiten, auf Fordern einzugehen, Herausforderungen anzunehmen und sich Anforderungen zu stellen – das ist auch eine Sache des Anleitens, Übens und Wagens. Schüler benötigen dazu gute Forderungen, interessante Herausforderungen. Sie benötigen aber auch Förderung, sich auf solche Arbeitsprozesse einzulassen.

Die Beiträge dieses Heftes sollen Anregungen geben, wie man in der Klasse beziehungsweise Schule

  • so fordern kann, dass Forderungen auch angenommen werden und weiterbringen;
  • so fördern kann, dass Lehrkräfte wie Schüler sich auf Fordern einlassen, dass sie lernen, Forderungen anzugehen und zu bewältigen.


Die Beiträge dieses Heftes

Das erste Praxisbeispiel dieses Heftes (Grimmelt/von Gaertner) greift die Aufarbeitung von Lerndefiziten im Anschluss an eine Lernstandserhebung auf – ein klassischer Fall, in dem normalerweise Förderunterricht eingesetzt werden würde mit Wiederholungen, Übungen, individuellem Nacharbeiten. Bei solchen Fördermaßnahmen wird von Schülern meist nur gefordert mitzumachen, die Aufgaben abzuarbeiten. Im Praxisbeispiel geht es aber um mehr: Es zielt darauf, dass die Schüler ihr eigenes Lernen reflektieren und sie verantwortlich werden für ihre eigene Lernzeit. Mit Hilfe von Lerncoaches, Diagnoseangeboten und Lernvereinbarungen sollen die Schüler lernen, mit den Anforderungen an sie und sich selbst umzugehen.

Das im Beitrag von Richter/Ronecker geschilderte »Crailsheimer Modell« an Berufsschulen geht von einer ähnlichen Zielsetzung aus, es arbeitet aber mit einem anderen Setting, bei dem Forderungen im Zentrum stehen, für die Bewältigungs- und Unterstützungsmöglichkeiten bereitgestellt werden. Die Forderungen der Kernmodule abzuarbeiten und zu erfüllen ist Aufgabe der Schüler – wie es Aufgabe der Lehrkräfte ist, zur Bewältigung dieser Forderungen anzuleiten, insbesondere durch die Erfahrung von Arbeitsweisen, Verankerung von Grundqualifikationen. Durch Arbeit und Austausch in Gruppen wird die Erfahrung von Selbstwirksamkeit gestärkt, die Erarbeitung von Klassenverfassungen sichert die einzelnen Erfahrungsschritte.

Helfen/Achilles/Mettler gehen in ihrem Beitrag darauf ein, wie Lehrkräfte durch ihr Handeln und Verhalten bei individueller Förderung im Unterricht den Grundstein legen können für einen zukünftigen Umgang mit Anforderungen und Herausforderungen. Dass Schüler Forderungen erfolgreich bewältigen, hängt entscheidend auch davon ab, welches Selbstbild, welche Lernkompetenz und welche Strategien ihnen die Förderung vermittelt hat.

Am Beispiel von Forderangeboten für Hochbegabte beschreiben Solty/Audehm/Herbers in ihrem Beitrag, wie man Forderungen für unterschiedliche Schüler kalibrieren kann und wie man einen angemessenen Grad an Herausforderungen für Lernende schafft. Interessant sind dabei vor allem zwei Aspekte: a) die Tatsache, dass ein forderndes Klima in der Klasse nicht nur denen nutzt, an die sich die Forderung richtet, sondern der Klasse insgesamt; b) die Notwendigkeit, die Schüler in die Kalibrierung von Anforderungen selbst mit einzubeziehen und sie so auch »forder-fähig« zu machen.

Nicolaisen setzt sich dann in seinem Beitrag damit auseinander, wie Lehrkräfte dem Lernen in Forder- und Förderprozessen begegnen können. Entscheidend sind für ihn dabei die Fähigkeit und das Bemühen der Lehrkraft, den Schüler so lösungsorientiert anzuleiten, dass dessen Ressourcen auch zur Entfaltung kommen können. Dass »die Lösung im Lernenden« liegt, erfordert aus der Sicht von Nicolaisen einerseits Zurücknahme, andererseits aber auch Konfrontation und klares Fordern.

Wie Fordern (und Förderung) durch eine passgenaue und auf genauer Untersuchung der Lernsituation beruhende Unterrichtsplanung ermöglicht wird, schildern Reber/Kirch in ihrem Beitrag über zielgerechte Förderung und Forderung der Rechtschreibfähigkeit. Die Schaffung einer integrierten Lernumgebung für Heterogenität mit entsprechenden Materialien und Verfahren ist für sie zen­tral, um selbstbestimmtes Lernen zu ermöglichen und dem Lerner (schon in der Grundschule) Einsicht und Gestaltungsmöglichkeit in seinen Lernweg zu geben.

Im abschließenden Beitrag setzt sich Eder mit der Notwendigkeit (und den Wegen) auseinander, einen anderen Blick auf die Lernwege von Schülern zu bekommen. Dabei geht es ihm vor allem um eine Betonung der stärkenorientierten und herausfordernden Sichtweise auf das Lernen der Schüler und um den Abbau von Defizitorientierung. Drei Verhaltensweisen behindern aus seiner Sicht die Entwicklung und das Sich-Fordern der Schüler besonders: wenn Lehrer den Schülern das Selbstdenken abnehmen, sie ihnen die Werte und Normen einfach nur vorsetzen und ihnen Sinnvorstellungen als fertiges Produkt überliefern.

Zusammenfassend beschreiben die Beiträge des Heftes ein Spektrum von Herangehensweisen und Ansätzen, wie Lehrkräfte durch Fordern auch fördern können und wie Schüler so mit Forderungen umgehen lernen, dass es ihrer Entwicklung und ihrem Lernen förderlich ist.

Literatur

Dr. Gerhard Eikenbusch ist Schulleiter und Mitglied der Reaktion von PÄDAGOGIK.
Adresse: Karlavägen 25, 11431 Stockholm/Schweden
E-Mail: gerhard.eikenbusch(at)telia.com


Aus: Pädagogik 3/14