Immer wieder stellt der Berufsalltag Lehrkräfte vor neue Herausforderungen. Die Nachfrage nach Lösungen ist groß. Patentrezepte sind begehrt, werden meist aber wieder zur Seite gelegt, weil sie nicht passen oder nicht halten, was sie versprechen. Wie können Lösungen so entwickelt und umgesetzt werden, dass sie für den Lehrer und das Kollegium dauerhaft funktionieren? Und welchen Wert können Eigensinn und Kooperation dabei haben?
»Als Lehrer musst du für alles Lösungen haben – jederzeit. Es gibt keinen Trick, mit dem du dich aus einer Situation fortzaubern kannst. Und selbst wenn es ihn gäbe, hätte auch dies wieder Auswirkungen. Es gilt das modifizierte Watzlawick-Axiom: ›Als Lehrer kann man nicht nicht Lehrer sein!‹«
Was immer auch Lehrkräfte tun und wie sie es tun, so müssen sie
Diese Anforderungen und Antinomien gelten prinzipiell und unabhängig von der persönlichen Situation der Lehrkraft (auch bei Krankheit, persönlichen Schicksalsschlägen) und unabhängig davon, ob es sich um neue Herausforderungen oder um Altbekanntes handelt.
Die Ausnahme: Überlegte Reaktionen
Im Laufe der Berufsbiographie einer Lehrkraft kristallisiert sich immer stärker ein individuelles Muster von Handlungs- und Reaktionsweisen heraus, wie sie mit diesen Anforderungen – erst recht in neuen oder schwierigen Situationen – umgeht, wie sie sie bewältigt, ihnen aus dem Weg geht oder sie anderen zuschieben kann. Dieses Muster ist zu einem erheblichen Teil sicherlich durch Persönlichkeit, Neigungen und Fähigkeiten bedingt. Es wird aber auch stark beeinflusst durch die Klasse, das Kollegium, die Schule und das Umfeld, in der eine Lehrkraft arbeitet. Das »Spielfeld«, auf dem sich ein Lehrer im Berufsalltag bewegen muss, ist mitbestimmend für seine Aktionen und die »Züge«, die er macht.
Wie bei einer Art »Lehrer-Schach« (Abb. 1) handeln oder reagieren Lehrkräfte – auch wegen der hohen Zahl von Entscheidungssituationen – häufig routinemäßig beziehungsweise intuitiv. Eher seltener erfolgen strategisch überlegte Reaktionen, bei denen langfristige Konsequenzen abgewogen werden. Weiterhin werden die meisten Entscheidungen allein getroffen, nur selten mit anderen kommuniziert: »Wenn einer in meinen Stunden stört, setze ich ihn vor die Tür, bis die Stunde vorbei ist. Dann habe ich meine Ruhe, die Klasse kann arbeiten – und er hat ein Problem mit den Hausaufgaben. Effektiver geht’s nicht!«
Bleibt man beim Bild vom »Lehrer-Schach«, handelt die Lehrkraft in diesem Fall so, als könnte sie
Die Illusion vom autonomen Lehrer
Solche Annahmen sind Illusion oder gar Selbstbetrug, das wird dem Betroffenen – wie im Fallbeispiel – oft schnell und schmerzlich deutlich:
»Inzwischen habe ich Julia sechs Mal vor die Tür gesetzt. Das macht ihr nichts aus. Sie versteckt vorher schon ihr Handy draußen in einer der Jacken, kann es sich dann nehmen und in Ruhe damit spielen. Hausaufgaben macht sie sowieso nicht mehr – warum auch, wo sie Noten hat, die nicht mehr schlechter werden können. Die Rektorin hat sie schon zum zweiten Mal während einer meiner Stunden auf dem Flur sitzen sehen. Morgen will sie mit mir sprechen – und nicht mit Julia. Soll sie doch mit Julia fertigwerden!«
Die Reaktionen der Schülerin und der Rektorin machen die Lehrkraft hilflos und setzen sie schachmatt: Sie wird (hoffentlich) anerkennen, dass sie nicht allein bestimmen und auch nichts allein bewirken kann, dass es immer neue Regeln gibt, sich im Lehrer-Schach sogar mehrere Spieler auf einem Feld aufhalten können und es eine Menge Mitspieler und nicht den einen Gegenspieler gibt. Sie wird einsehen müssen, dass der Erfolg ihrer Aktionen auch nicht nur davon abhängt, wie gut ihr nächster Zug ist, sondern auch von den Zügen ihrer Mitspieler.
Zu Kooperation gibt es keine Alternative
Wer als Lehrerin oder Lehrer sich nicht fühlen will wie in einem Spiel, das von Anfang an verloren ist, wer neuen Anforderungen und schwierige Probleme konstruktiv – für sich und andere – angehen und nicht in das »Lehrer-Schachmatt« will, der braucht
Dass man mit Lehrern, Schulleitung, Schülern und Eltern kooperieren und zusammenarbeiten muss, wenn man etwas erreichen will, erscheint nicht nur moralisch einleuchtend. Kooperation ist auch angesichts der komplexen Aufgaben und Anforderungen im Unterricht und Schule unabdingbar; es gibt keine Alternative zu ihr, da Erfolg der Lehrerarbeit immer auch abhängt von der Unterstützung, der Zuarbeit und der Mitwirkung anderer Beteiligter.
Kooperation allein ist allerdings noch kein Garant für guten Unterricht oder gute Schule – sie ist auch kein positiver Wert an sich. Es gibt Schulen, in denen Lehrkräfte auf Anordnung oder durch sozialen Druck in Arbeitsgruppen oder Teams zusammensitzen, ohne dabei zusammenzuarbeiten, ohne ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu haben, ohne sich gegenseitig zu helfen und zu fördern (vgl. Hargreaves/Fullan 1996). Kennzeichnend für Kollegien mit Scheinkooperation ist, dass unter Lehrern kaum über Inhalte, Werte, Arbeitsbeziehungen oder Arbeit diskutiert wird, dass Lehrer die Schüler gar nicht mehr wahrnehmen (wollen) und auch nicht wissen, wozu ihre Arbeit gut sein soll und was sie noch erreichen können. Dennoch kann es gut sein, dass sich Lehrer in solchen Kollegien wohlfühlen. Hargreaves (1997) spricht hier sogar von inzestuösen und protektionistischen Lehrerkollegien, in denen Kooperation nur aus egoistischen Motiven erfolgt und sich gegen Schüler richtet.
Voraussetzung: Eigene Wünsche, Ziele und eine aufmerksame Wahrnehmung
Damit Kooperation für Lehrer und Schüler, Eltern und Schule positive Folgen haben kann, braucht sie Eigensinn. Mit »Eigensinn« ist hier zweierlei gemeint (vgl. Negt/Kluge 1981, S. 765 ff.): Zum einen, dass man als Lehrkraft noch eigene Zielvorstellungen und offene Wünsche für eine erfüllende Arbeit und gute Schule hat, dass man für seine Arbeit (noch) eine Perspektive sieht und sie verwirklichen will. Zum anderen ist Eigensinn auch notwendig, um Schule und Umfeld »mit eigenen Sinnen« offen und wachsam wahrnehmen zu können und zu wollen. Ausdrücklich meint »Eigensinn« hier also das Gegenteil von Starrköpfigkeit, Rechthaberei oder Verbohrtheit.
Eigensinn und Kooperation: Grundelemente des pädagogischen Handlungsrepertoires
Kooperation ist nur erfolgreich, wenn man sich darauf verlassen kann, dass die Beteiligten die gemeinsamen Bemühungen ernst nehmen und einen Sinn darin sehen, sich so einzubringen, dass durch Kooperation mehr möglich ist, als dies für den Einzelnen möglich gewesen wäre. Und Eigensinn wird nur weiterführen, wenn er das, was er anstrebt und wahrnimmt, auch vermitteln und umsetzen möchte.
Will man die Anforderungen und Antinomien des Lehrerberufs bewältigen (und nicht im Lehrer-Schachmatt enden), muss man überlegt Kooperation und Eigensinn entwickeln. Sie sind Grundelemente pädagogischen Handlungsrepertoires und Kernstücke einer auf berufswissenschaftlichen Grundlagen verantwortlich handelnden Lehrerpersönlichkeit – eines professionellen Lehrers (Bauer 2005, S. 81).
Die Fähigkeit zu Eigensinn und Kooperation lässt sich nicht für sich allein und nicht ein für alle Mal erwerben. Alle Beteiligten müssen gemeinsam und kontinuierlich für sie sorgen, sie muss bei neuen Anforderungen oder Zusammenhängen immer wieder gewonnen werden.
Zu den Beiträgen des Heftes
Die Beiträge dieses Heftes wollen Anregungen geben, wie die Sorge für Eigensinn und Kooperation gelingen und wie Lehren und Lernen in der Schule damit verbessert werden kann. In allen Beiträgen wird – wenn in unterschiedlicher Nuancierung – sichtbar, dass der Erfolg der Sorge auch davon abhängt, wie sehr die Beteiligten
Ob die Sorge um Eigensinn und Kooperation gelingt, beruht wesentlich darauf, in welchem Maße sie sich auf solche Kollegen und Arbeitsbereiche richten kann, die relevant und empfänglich dafür sind. Dies ist in den folgenden sechs Feldern am ehesten zu erwarten:
Dabei geht es nicht darum, möglichst viele oder gar alle Bereiche auf einmal zu bearbeiten, sondern das Feld mit den größten Möglichkeiten für eine Entwicklung und Verstärkung der Professionalisierung zu finden. Das wird in der Regel das Feld sein, das für die Arbeit und die Ergebnisse der Lehrerarbeit hohe Bedeutung hat (also kein Nebenschauplatz oder Hobby ist) und in dem es Bereitschaft und Grundlagen gibt, sich in Frage stellen zu lassen, Problemen auf den Grund zu gehen und neue Ansätze zu entwickeln und abzuwägen.
Im vorliegenden Heft gibt es zu jedem der Felder einen Beitrag (vgl. Abb. 2).
Anton Strittmatter, der lange Jahre an verantwortlicher Stelle in der Schweizer Lehrergewerkschaft gearbeitet hat, fängt mit seinem Beitrag direkt bei der einzelnen Lehrperson an und setzt sich mit dem Aspekt der professionellen Selbstsorge auseinander. Er plädiert dafür, sich als Lehrer nachhaltig der Verpflichtung zur Selbstsorge zu widmen und an den eigenen Fähigkeiten zu arbeiten, für sich selbst zu sorgen. Dazu gehöre insbesondere die Sorge um gute Sinngebung, um ein gutes Verständnis der beruflichen und persönlichen Situation und um eine aufmerksame Selbstwahrnehmung. Mangelnde Selbstsorge hat nach seiner Einschätzung nicht nur schädliche Folgen für die einzelne Lehrperson, sondern für das Kollegium und die Klasse. Insofern müsse es auch für die Schule von großem Interesse sein, wenn Lehrpersonen sich konsequent eigener Selbstsorge widmen.
Ulrich Mumm setzt sich in seinem Beitrag mit solchen Kolleginnen und Kollegen auseinander, denen solche Selbstsorge nicht gelingt und die bald bei Schülern, Eltern und Kollegium als »schwierige« Lehrer gelten. Im Sinne einer Sorge für den schwierigen Kollegen, aber insbesondere auch für das Kollegium beschreibt er die notwendigen Grundlagen, um auf allen Seiten positive Entwicklungen zu erreichen. Gleichzeitig zeigt er auch die Grenzen in der Arbeit mit schwierigen Lehrkräften auf und macht deutlich, wo auch aus Selbstsorge eine klare Interventionskette im Kollegium und der Schulleitung notwendig sind, um unnötige oder kontraproduktive Bemühungen zu vermeiden.
Magnus N. Blixt, schwedischer Lehrerfortbildner mit dem Schwerpunkt Berufsethik, zeigt in seinem Beitrag, wie wichtig es ist, nicht nur auf die Lösung einzelner Konflikte zu schauen, sondern in der Lehrerschaft zu geteilten Wertvorstellungen und gemeinsamen ethischen Grundsätzen zu kommen. Zu diesen Grundsätzen gehört auch die Selbstverpflichtung, die eigene Praxis dem kritischen Blick von Kollegen zugänglich zu machen und für seine Entwicklung seiner Lehrerpersönlichkeit selbst aktiv zu sorgen. Damit es nicht bei der Formulierung oder Beschwörung der Selbstverpflichtung bleibt, sondern die vereinbarten Grundsätze auch praktiziert werden, wurden umfangreiche kollegiumsinterne und -externe Fortbildungen durchgeführt, um Konsensbildung in der Lehrerschaft zu fördern. Dass die Lehrergewerkschaften die Erarbeitung und Umsetzung berufsethischer Grundsätze als Strategie zur Stärkung des Lehrerberufs als Profession verfolgt haben und hier hohe finanzielle Mittel eingesetzt haben, ist ein Beleg dafür, wie wichtig ein funktionierender ethischer »innerer Kompass« nicht nur für die einzelne Lehrperson, sondern für den Lehrerberuf insgesamt ist.
Aber auch ein gemeinsames berufsethisches Verständnis und gleiche Zielvorstellungen über die pädagogische Arbeit sind noch keine Garantie dafür, dass die Kooperation im Kollegium und in der Klasse funktioniert. Eigenverantwortlich und kooperativ zu arbeiten erfordert in der Regel einen gemeinsamen und vor allem fokussierten Lernprozess. Martin A. Riesen zeigt am Beispiel der Arbeit eines Unterrichtsteams zum Thema Hausaufgaben, welche Aufgaben in Unterrichtsteams möglich und notwendig sind und wie man die Hauptaufgabe (Lernen fördern) im Blick behalten muss. Der Rückblick auf den Entwicklungsstand des Teams sowie die Einschätzung der Möglichkeiten und Ressourcen können viele Hinweise darauf geben, wo das Team noch mehr Eigensinn entwickeln kann und wo Kooperation verstärkt oder verändert werden muss.
Zu den besonderen Herausforderungen bei Unterrichts- und Schulentwicklung gehört es, externe Gruppen oder Beteiligte als Bündnispartner zu gewinnen für Lehrerprofessionalisierung und für Schulentwicklung. Jens Gerlach berichtet in seinem Beitrag von seinen Erfahrungen als Sozialpädagoge an einer berufsorientierten Schule und als Vater, wie Eltern den Lehrkräften über Feedback und Zusammenarbeit systematisch Impulse und Hinweise für Weiterentwicklung geben können. Konstruktiv mit Eltern zusammenarbeiten ist eine sehr nützliche Form der Kooperation über die enge Bezugsgruppe des Kollegiums hinaus und hilft, eigene Zielvorstellungen immer wieder zu überprüfen und zu revidieren.
Im letzten Beitrag des Thementeils setzt sich Adolf Bartz mit Rolle und Aufgaben von Schulleitung auseinander. Ihm geht es darum, dass die Heterogenität des Kollegiums in Kooperationsprozessen und bei der Entwicklung der Professionalität geachtet wird und dass Schulleitungen systematisch Selbstentwicklung und Selbsterneuerung im Kollegium anregen und fordern. Dies sei besonders gut möglich durch positiven Druck und mit spürbarem Zug.
Insgesamt zeigen die Beiträge, wie es in den Feldern und Projekten möglich ist, Lehrerprofessionalität durch Eigensinn und Kooperation zu stärken und weiterzuentwickeln. Die Beiträge zeigen aber auch, dass das nur gelingen kann, wenn es dabei möglich ist,
Literatur
Dr. Gerhard Eikenbusch, Jg. 1952, ist Schulleiter und Redaktionsmitglied von PÄDAGOGIK.
Adresse: Karlavägen 25, 4 tr, 11431 Stockholm, Schweden
E-Mail: gerhard.eikenbusch(at)telia.com
Aus: Pädagogik 4/2012