Lernen sichtbar machen

Wie man Einsicht in Lern-Landkarten bekommen kann

Könnte man im Unterricht plötzlich alles sehen, was beim Lernen geschieht, wer gerade wie und wann etwas lernt – es täte sich eine neue Welt auf. Lehrkräfte, Eltern und vor allem Schüler sind sich – oft verzweifelt – darüber einig, dass nur ein Bruchteil des Lernens erkannt und gesehen wird und dass damit häufig auch eine angemessene Würdigung von Lernen ausbleibt. Wie können die verborgenen, unentdeckten oder vergessenen Seiten und Wege des Lernens in der Schule sichtbar gemacht werden?

Mutter: Wie war’s in der Schule?
Mendy: Gut.
Mutter: Was sagt der Lehrer?
Mendy: Nix.
Vater: Moment mal!
Mutter: Muss man dir immer die Würmer aus der Nase ziehen? … Wie war’s in der Schule?
Mendy: Gut.
Mutter: Was sagt der Lehrer? …
Helge Schneider (2003). Mendy – das Wusical

Sozialkunde, 9. Klasse: Drei Schüler stellen das Ergebnis ihrer Projektarbeit »Unsere Geschäftsidee: Tourist Guides für Jugendliche« vor. Zwanzig Minuten haben sie Zeit, ihre ­Po­werpoint-Präsentation vorzustellen, ihr Handout zu erklären und Fragen der Mitschüler zu beantworten. Alles läuft nach Plan: Die Schüler halten die Zeitvorgaben ein, der Beamer funktioniert ausnahmsweise, die Mitschüler fragen sogar interessiert nach. Am Ende der Stunde, nachdem noch eine zweite Gruppe ihre Geschäftsidee vorgestellt hat, gibt der Lehrer die Rückmeldung und die Note (es ist schließlich zwei Wochen vor den Zeugnissen): »Ich fand eure Präsentation gelungen. Eure Ideen waren gut entwickelt und begründet, ihr habt euch ans Thema gehalten und gut recherchiert. Die Handouts sahen gut aus. Aber bei der Powerpoint-Präsentation hättet ihr die gestalterischen und technischen Möglichkeiten mehr nutzen und die wichtigen Aspekte noch etwas besser farblich hervorheben können. Aber (!) – alles in allem – eine gute Eins minus.«

Die Schüler halten einen Moment den Atem an, dann setzen sie sich auf ihre Plätze und sind sauer, die Enttäuschung ist ihnen anzusehen.

Vier Wochen haben sie an ihrer Präsentation gearbeitet, und es scheint, als hätte der Lehrer nichts von ihrer Arbeit gesehen. Dabei steckt hinter der zwanzigminütigen Präsentation ein langer und schwieriger Lernweg:

Schon der rein zeitliche Aufwand für die Projektpräsentation war äußerlich gar nicht zu erkennen: Dabei geht es nicht um die »reine« Arbeitszeit, die jedes Gruppenmitglied aufgewendet hat – durchschnittlich zehn Stunden –, sondern auch um die Anlauf-, die Koordinations- und Absprachen-Zeit, den Aufwand für Recherchen, Nachfragen, Besorgungen. In der Präsentation der drei Jugendlichen steckten rund vierzig Stunden Arbeit, die gerade mal 20 Minuten gesehen und nicht einmal eine Minute gewürdigt wurde.

Die Mühe, die hinter der Projektarbeit stand, hatten die Schüler auch ein Stück verbergen wollen, alles sollte einfach und relaxed erscheinen, damit nur niemand in der Klasse auf die Idee kam, sie könnten Streber sein. Auch dass einer der Schüler Internet-Verbot hatte und nicht recherchieren konnte, blieb ebenso verborgen wie die Tatsache, dass die Absprachen, sich außerhalb des Unterrichts zu treffen, logistische Meisterleistungen waren.

Unsichtbar blieben noch viele Rahmenbedingungen – begünstigende wie hinderliche. Dass ein Onkel eines Schülers in letzter Minute entscheidend geholfen hatte, blieb ebenso unentdeckt wie der Vorteil, dass ein anderer Schüler über unbegrenzte Möglichkeiten für Farbkopien verfügte und so farbige Handouts erstellen konnte.

Der Weg von der ersten Idee bis zur fertigen Arbeit war nur in Ansätzen nachvollziehbar, wenn der Lehrer sich an das Planungsgespräch vor gut einem Monate erinnerte. Die einzelnen Denkschritte, die verworfenen Ideen und das Entstehen der Gliederung, das alles fand sich überhaupt nicht wieder. Die fachlichen Grundlagen, auf denen die drei Jugendlichen zu ihrem Ansatz gekommen waren, blieben ebenso im Dunkeln wie die Erfahrungshintergründe.

Auch der Arbeits- und Gruppenprozess, in dem sich die drei mühsam zusammengerauft hatten, spiegelte sich nicht im Ergebnis wider, das wurde auch vom Lehrer nicht nachgefragt. So blieben auch die Revier- und Platzkämpfe sowie das Ringen um Ordnung in der Gruppe unerkannt.

Hintergründe, Verbindungen und Umwege: die Lern-Landkarte

Hinter dem, was Schüler im Unterricht lernen und leisten, steckt eine Geschichte, ein oft langer Lernweg mit Abkürzungen, Umwegen oder Irrtümern. Und was Schüler im Unterricht zeigen, steht nicht bloß für sich, sondern es ist gerahmt durch die Bedingungen und die Möglichkeiten, die sie als Individuum sowie als Klasse haben (vgl. Abb. 1). Deshalb sind Lösungen, Präsentationen, Referate oder Leistungen bei Klassenarbeiten und Tests nur ein kleiner Abschnitt des Lernweges der Schüler – oft nur ein sehr kleiner und für den Lernweg sogar uncharakteristischer Teil. Oft aber werden sie – von Schülern wie von Lehrkräften – als Ziel oder entscheidende Abschnitte des Lernweges angesehen, weil hiervon Noten und Weiterkommen abhängen. Auf sie wird hingearbeitet, für sie gibt es Vorbereitungen, Termine und Absprachen. Haben sie ihren Zweck erfüllt, ist dieser Teil des Lernwegs beendet und wird im besten Falle nicht mehr benutzt, im schlimmsten Fall wird er zur Sackgasse oder zu einem Blindschacht.

Statt der eigentlichen Landkarte mit verbundenen Lernwegen (einschließlich von Haupt, Neben- und Umwegen, Verbindungswegen und Hinweisen) werden meist nur Kartenausschnitte sichtbar mit unverbundenen Zielen oder Zwischenschritten.

Weder für Schüler noch Lehrkräfte – und noch weniger für Außen­stehende oder Eltern – werden die Strukturen und Verläufe der Lernwege im Unterricht genügend sichtbar, dass man aus ihnen lernen und sie systematisch ausbauen könnte.

Viele Signale im täglichen Unterricht und im Verlaufe der Schuljahre zeigen, dass beim Lernen immer wieder von vorn angefangen wird und nur zählt, was schwarz auf weiß nachweisbar ist – und das auch nur so lange, bis der nächste Lernabschnitt kommt: Tafelbilder werden nach dem Unterricht ausgewischt, Präsentationsplakate verschwinden schnell wieder oder hängen noch Monate lieblos in der Klasse herum, Haushefte werden weggeworfen, sobald sie vollgeschrieben sind. Klassenarbeiten werden berichtigt und nicht weiter beachtet, Arbeitsblätter werden ausgefüllt, abgeheftet, vergessen. Die großen Aufräumaktionen in Schulen vor Schuljahresende machen diesen Umgang mit Lernwegen und -ergebnissen sinnlich erfahrbar: Alles verwandelt sich zu Müll und muss weg, damit fürs nächste Schuljahr Platz ist. Ein solcher Umgang mit dem Lernen von Schülern verschwendet Lernmöglichkeiten und vergibt Lernchancen. Er hinterlässt keine Spuren und Strukturen, sondern nur Eindrücke und zufällige Erinnerungen. Letztlich erschwert er, dass Schüler selbständig und selbstbewusst arbeiten – und den Lernerfolg von Schülern und Lehrkräften.

Lernprozesse und -ergebnisse erst einmal erfahren können

Wenn Lernwege sich im dichten, undurchdringlichen, aber durchorganisierten Dickicht des Schulalltags verlaufen oder in einer einförmigen glatten Schullandschaft nicht mehr erkannt werden können, dann beruht das durchweg nicht auf Unfähigkeit, fehlendem oder gar bösen Willen der Beteiligten (Schülern, Lehrkräften wie Eltern gleichermaßen). Wenn Lernen so scheitert oder erfolglos bleibt, fehlt es meistens an:

  • Wissen und Einsicht von Schülern (und Lehrkräften) darüber, wie Lernprozesse ablaufen, gestaltet und ausgewertet werden können, was hinter den Lernergebnissen »steckt«,
  • Sprache und Kommunikationsmöglichkeiten, Lernprozesse zu beschreiben und sich über sie zu verständigen,
  • Einflussmöglichkeiten auf Lernschritte und Inhalte,
  • Kontinuität des Lernens in der Klasse (vor allem bei Stofffülle, Außengesteuertheit von Lernen),
  • Zeit und Muße, eigenes und fremdes Lernen überhaupt als Lernen wahrzunehmen und zur Lernerfahrung werden zu lassen,
  • klaren Erwartungen an Sinn und Ergebnisse des Lernens,
  • Sichtbarkeit und Öffentlichkeit von Lernprozessen und Ergebnissen,
  • Anerkennung und Wertschätzung bereits geleisteten Lernens,
  • Kooperation bei Lernprozessen in der Klasse und in der Schule.

Wie notwendig und gewünscht solche Rahmenbedingungen und Strukturen für das Lernen in der Schule sind, wird gerade bei »besonderen Anlässen« im Schulleben deutlich: In Rückblicken bei Pensionierungen oder bei Schulentlassungsfeiern werden gerade sinnlich erfahrbare, und für den Einzelnen bedeutsame Lern­erfahrungen immer wieder positiv hervorgehoben – und betont, wie groß der Mangel an solchen Erfahrungen im Schulalltag war. Und wann immer Lernerfahrungen und Leistungen ernst gemeint und überzeugt präsentiert oder prämiert werden, blitzt das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, Freude am Lernen, nach Bekräftigung und Anerkennung auf.

Eine wesentliche Voraussetzung dafür, solche positiven Bedingungen und Strukturen für Lernen zu schaffen und Einfluss auf das eigene Lernen nehmen, es gestalten und weiterentwickeln zu können, besteht darin, Lernprozesse und Lernergebnisse überhaupt erst einmal erfahrbar und damit auch sichtbar zu machen: Wer nicht erfährt und sehen kann, dass er lernt und wie er lernt, der lernt nicht.

Lernwege sehen und gestalten können

Sich selbst, den Klassenkameraden, den Lehrern und Eltern sichtbar zu machen, was und wie gelernt wurde, ist eine große Hilfe, eigene Lernwege abzusichern:

  • Wenn es eine Chance gibt, auf eigenes Lernen zurückzublicken und sich zu vergewissern, was und wie man gelernt hat, kann man erfahren, dass man etwas bewirken kann (Selbstwirksamkeit).
  • Wer eigene Lernschritte nachverfolgt, kann das eigene Lernen zielgerichtet weiterentwickeln, Möglichkeiten zur Elaboration und Metakognition können wahrgenommen werden. Lernen sichtbar zu machen ermöglicht »Lernen lernen«.
  • Wer sieht, wie gelernt wird und wie andere lernen, dem eröffnet sich die Möglichkeit der Abgrenzung und Zusammenarbeit zum gemeinsamen Lernen (Kooperation).
  • Wer sich eigener Lernwege bewusst ist, kann Ergebnisse zielgerichteter, selbstbewusster und adressatenbezogen präsentieren.
  • Wer das sehen kann, was man selbst und andere gelernt haben, kann die eigene Arbeit mit der anderer vergleichen und einschätzen, eigene Standpunkte reflektieren und sein Lernen verändern. (Kritikfähigkeit).
  • Wer die eigene Arbeit präsentieren kann, der kann Rückmeldungen darüber bekommen, was man geleistet hat und wo noch weitere Aufgaben und Möglichkeiten liegen. Das gibt Anerkennung und Bestätigung sowie Bewusstheit über eigenen Lernweg: Mitschüler und Lehrkräfte (und Eltern) Rückmeldung und Anregungen geben, die Arbeit bestätigen (Feedback).
  • Wo in der Klasse fassbar wird, wie gelehrt und gelernt wurde, lässt sich das Zusammenwirken von Lehren und Lernen untersuchen. Das bietet Ausgangspunkte für Lehrerfortbildung und die Entwicklung von Unterricht.
  • Wenn Lernprozesse in der Schule sichtbar werden (z. B. durch Ausstellungen, Präsentationen), wächst im Umfeld das Wissen und das Verständnis, was Schüler und Schule leisten und welchen Lernweg die Schule gehen soll. (Schulentwicklung)

Hilfen, um Lernwege sichtbar zu machen – Übersicht über die Beiträge

In diesem Heft sollen sechs unterschiedliche Ansätze vorgestellt werden, wie man im Schulalltag Lernwege eröffnen, erfahrbar und sichtbar machen kann. Dabei geht es sowohl um individuelle Arbeitsprozesse wie um Verfahren in der Schul- und Unterrichtsentwicklung.
Im ersten Beitrag schildern Hella Güldenhaupt und ihre Schüler aus einer 9. Klasse ein ganzes Bündel von Maßnahmen, die Lernprozesse in der Klasse selbst und nach außen sichtbar machen. Dazu gehören Lernentwicklungsberichte, Lerntagebücher, die Arbeit in Lernbüros, Projektvorstellungen, Auswertungen von Schülersprechtagen und Feedbacks. Dass solche Verfahren gut geeignet sind, Lernbewusstsein zu schaffen, belegen auch die kritischen Einschätzungen durch die Schüler selbst – sie werden hier als Lernexperten ernst genommen.

Roger und Pär Ellmin stellen in ihrem Beitrag den Portfolio-Ansatz dar, mit dem insbesondere Lernprozesse über einen längeren Zeitraum einsichtig gemacht werden können. Sie setzen sich insbesondere dafür ein, Portfolios als didaktisches Werkzeug auf dem Hintergrund eines erweiterten Lernbegriffs (in Anlehnung an Dewey) als Verfahren der Reflexion von Lernen und Unterricht zu verwenden und es für Unterrichtsentwicklung zu nutzen. Sie zeigen auch Grenzen, Schwierigkeiten und Probleme beim Einsatz von Portfolios auf und weisen auf die Gefahren hin, diesen Ansatz zur bloßen Präsentationsmethode verkommen zu lassen.

Um den Aspekt, den eigenen Lernprozess selbst strukturiert erfahren und reflektieren zu können, geht es im Beitrag von Ditmar Friedrich und Katja Witt: Sie zeigen, wie man in einer Schule ein zusammenhängendes Feedback-System aufbaut und wie Schüler selbst zu Akteuren in einem solchen System werden, u. a. durch Lerntagebücher, Ich-kann-Checklisten und Fremdeinschätzung.

Dorit Bosse stellt in ihrem Aufsatz am Beispiel des computergestützten Arbeitsjournals vor, wie Schüler und Lehrer Lernprozesse beobachten und gezielt weiterentwickeln können. Ein wesentlicher (neuer) Aspekt ist dabei die Nutzung von Arbeitsjournalen als kooperatives Lernarrangement, u. a. durch Formen des Interviews, Einbindung sozialer Netzwerke.
Ein ganz anderes »Medium«, um Lernprozesse sichtbar zu machen, präsentiert Christian Gefert in seinem Beitrag über Theatrales Philosophieren: Abstrakte Texte und Inhalte werden durch Theaterspiel sinnlich erfahrbar und verfügbar gemacht, um sie dann in einen fachlichen Diskurs überführen zu können. Einen Text und seine Ideen sichtbar zu machen, ist hier nicht nur Abschluss-Produkt oder schmückendes Beiwerk, sondern Kern der unterrichtlichen Arbeit, um sich dem Text zu nähern und ihn zu verstehen.

Im abschließenden Beitrag des Thementeils von Ingrid Ahlring steht die Schule als Ganzes im Blickpunkt: Die Autorin schildert, wie durch Rituale, kulturelle Praxis und äußere Gestaltung der Schule die Lernergebnisse einen Wert bekommen, um den sich alle in der Schule kümmern und der auch von allen wahrgenommen werden kann. Grundlegend ist dabei die Alltäglichkeit, mit der innere Lernprozesse im Schultag sichtbar gemacht werden.
Alle Beiträge des Heftes setzen sich ab von einer falsch verstandenen Auffassung von Sichtbar-Machen, bei der es nur um Äußerlichkeiten geht, um Werbung und um Konkurrenz. Hochglanzbroschüren, punktuelle Präsentationen auf Projekttagen, isolierte Lernplakate oder folgenlose Abfrage von Schüler- oder Elternmeinungen – sie machen das Lernen nicht sichtbar, sondern sie verkleiden es und führen in die Irre. Wer Lernen sichtbar machen will, für den sind Fehler wie Erfolge gleichermaßen interessant, der interessiert sich dafür, was im Lernen steckt (oder dahinter).

Dr. Gerhard Eikenbusch, Jg. 1952, ist Redaktionsmitglied von PÄDAGOGIK und Leiter der Deutschen Schule Stockholm.
Adresse: Karlavägen 25, 11431 Stockholm, Schweden
E-Mail: mail(at)eikenbusch.info


Aus: Pädagogik 12/2010