Lernen verstehen, anleiten und begleiten: Diagnostizieren und Fördern als schulische Handlungsfelder

Was bedeutet es, unter schulischen Alltagsbedingungen zu diagnostizieren? Was ist der Unterschied zwischen Ergebnisdiagnostik und Förderdiagnostik? Lässt sich auch im Klassenunterricht individuell fördern? Wie kann man dem einzelnen Kind/Jugendlichen und seinen Lernprozessen gerecht werden? Welche Kooperationsformen im Kollegium helfen einer Schule, individuelle Förderung wirkungsvoll zu gestalten?

»Kompetenz 7: Lehrerinnen und Lehrer diagnostizieren Lernvoraussetzungen und Lernprozesse von Schülerinnen und Schülern; sie fördern Schülerinnen und Schüler gezielt und beraten Lernende und deren Eltern.« So wird in den von der KMK verabschiedeten »Standards für die Lehrerbildung« (Kultusministerkonferenz 2005, S. 288) eine von elf zentralen Kompetenzen beschrieben, über die alle Lehrer zukünftig verfügen sollten.
Vor fast vier Jahrzehnten beschrieb der Deutsche Bildungsrat als Aufgaben, die für den Lehrerberuf zentral sind, das Lehren (Unterrichten), Erziehen, Beurteilen, Beraten und Innovieren (Deutscher Bildungsrat 1970, S. 217 ff.). Diese Liste hat Maßstäbe gesetzt und wird bis heute gern und zustimmend zitiert. Vom »Diagnostizieren« war seinerzeit noch nicht die Rede; die zugehörige Kompetenz – die »Diagnosekompetenz« – ist in der Lehrerbildungsdiskussion noch relativ neu. Inzwischen aber wird sie in der aktuellen Literatur zur Professionalisierung von Lehrern fast durchweg genannt und gefordert – und in der Lehrerausbildung zunehmend berücksichtigt (dazu der Beitrag von Astrid Kaiser/Carsten Rohlfs).

Oft wird das Diagnostizieren als Teilaufgabe oder Akzentuierung dem Kompetenzbereich des Beurteilens zugeordnet – so auch in den KMK-Standards. Die Ausrichtung des Diagnostizierens auf das Fördern sprengt allerdings die herkömmliche Systematik: Fördern liegt nämlich gewissermaßen quer zu den anderen Aufgaben, es spielt in den Bereich des Unterrichtens und des Erziehens ebenso hinein, wie es zu einer maßgeblichen Dimension für das Beraten von Schülern geworden ist. Und im Kontext der gegenwärtigen Bemühungen um Schul- und Unterrichtsentwicklung ist es nicht zuletzt – als Programmatik »Individuelle Förderung« – Ziel und Gegenstand des Innovierens.

Was in der neueren Diskussion mit »Diagnostizieren« verbunden wird, lässt sich ansatzweise nachvollziehen, wenn man sich die Begriffe vergegenwärtigt, die in den KMK-Standards zur Erläuterung dieser Kompetenz genannt werden: Es geht darin um das Erkennen von Entwicklungsständen, Lernpotenzialen, Lernhindernissen, Lernfortschritten und Lernausgangslagen; um das Erkennen von Begabungen, darunter Hoch- und Sonderbegabungen, aber auch von Lern- und Arbeitsstörungen; um »Lernprozessdiagnostik«; um die Abstimmung von Lernmöglichkeiten und Lernanforderungen; um situationsgerechte Beratung von Schülern und Eltern; um die Unterscheidung von Beratungs- und Beurteilungsfunktion; um die Kooperation mit Kollegen und Institutionen in Beratungsfragen.

Für die Mehrzahl der gegenwärtig unterrichtenden Lehrer war das »Diagnostizieren« während ihrer Ausbildung kein Thema, und auch Fortbildungen dazu sind (noch) Mangelware. Lediglich in der sonderpädagogischen Ausbildung ist es schon seit langem verankert. Mangelnde Vertrautheit ist sicher einer der Gründe dafür, dass viele Kolleginnen und Kollegen skeptisch bis ablehnend reagieren, wenn die Erwartung an sie herangetragen wird, dass sie jetzt auch noch »diagnostizieren« sollen; sie fühlen sich überfordert und sehen darin lediglich eine weitere Anforderung innerhalb eines Kranzes beruflicher Aufgaben, die in ihrer Ballung und Komplexität, bisweilen auch in ihrer subjektiv empfundenen Sinnlosigkeit, als belastend genug empfunden werden. Ein anderer Grund ist, dass die Begriffe »Diagnostizieren« und »Diagnose« mit Erfahrungen aus dem medizinischen und teilweise auch aus dem psychologischen Bereich assoziiert werden. Als Patient weiß man: Zum Arzt gehe ich in der Regel, wenn etwas mit mir »nicht stimmt«, wenn ich z. B. Schmerzen habe. Auf Grund der von mir berichteten Symptome erstellt dann der Arzt – eventuell nach weiteren aufwändigen Untersuchungen und Messungen – eine Diagnose, die Voraussetzung für die von ihm vorzuschlagende Behandlung (Therapie) ist. Vergleichbares findet in psychologischen Untersuchungen statt, sofern es um das Erkennen und Beheben psychischer Störungen geht. In der medizinischen und oft auch der psychologischen Praxis sind Diagnose und Therapie also primär defizitorientiert, d. h. sie werden vorgenommen, um die genauen Ursachen für ein vermutetes oder manifestes Defizit zu erkennen (Diagnose) und auf der Basis dieser Erkenntnisse das Defizit zu behandeln: es zu beheben oder zumindest zu lindern (Therapie mit dem Ziel der Heilung).

Wie lassen sich nun die Begriffe des Diagnostizierens und Förderns sowie ihr Verhältnis zueinander aus pädagogischer Sicht klären? Im Folgenden möchte ich eine solche Klärung versuchen, und zwar auf eine Weise, die den Bedingungen des schulischen Alltags pragmatisch Rechnung trägt; ein besonderes Anliegen ist es mir, das Diagnostizieren von den verbreiteten Überforderungskonnotationen zu befreien und aufzuzeigen, dass die neue Begrifflichkeit vieles von dem aufnimmt und lediglich stärker systematisiert, was gute Lehrer, denen ihre Schüler am Herzen liegen, eigentlich schon immer getan haben.

Vom Ziel her denken

Logisch geht das Diagnostizieren dem Bewerten und Fördern voraus, womit zwei unterschiedliche Ziele des Diagnostizierens genannt sind. Worin sich die zugehörigen Formen des Diagnostizierens unterscheiden, lässt sich am besten verstehen, wenn man sich vergegenwärtigt, was jeweils erreicht bzw. bewirkt werden soll.

Ergebnisdiagnostik: Im Laufe von schulischen Bildungsprozessen müssen immer wieder Bewertungen der Lernenden erstellt und dokumentiert werden: In der Regel geht es darum, einen erreichten Leistungsstand möglichst genau zu beschreiben, und in unserem Schulsystem wird dieser Leistungsstand in der Regel in Noten übersetzt (wobei die Probleme der üblichen Ziffernnotengebung bekannt sind, auf die ich an dieser Stelle nicht eingehe; vgl. etwa Arbeitsgruppe Primarstufe an der Universität Siegen 2006). Dazu dienen mündliche und schriftliche Rückmeldungen (Klassenarbeiten), Versetzungen und Nicht-Versetzungen, zentrale Prüfungen, Vergabe von Qualifikationen und Abschlüssen, Empfehlungen für weiterführende Schulen, aber auch Lernstandserhebungen – und letztlich werden auf diese Weise häufig weitreichende Entscheidungen über zukünftige Berufs- und Lebenschancen getroffen. Alle diagnostischen Verfahren und Entscheidungen, die in solchen Zusammenhängen eingesetzt werden, lassen sich der Ergebnis- oder auch Selektionsdiagnostik (Ingenkamp/Lissmann 2008, S.31 ff.) zuordnen. In Beurteilungen dieser Art werden Erkenntnisse und Einschätzungen gebündelt, die sich auf bestimmte Merkmale des zu Beurteilenden zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner Bildungsbiografie beziehen. Klassische Mess-Gütekriterien (Validität, Objektivität …), die praktisch nur selten eingehalten werden (können), sind aus Gründen der Fairness wegen der mitunter einschneidenden Folgen für die bewerteten Personen im Prinzip hierbei von Bedeutung.

Förderdiagnostik: Im vorliegenden Heft geht es allerdings um das »Diagnostizieren« im Hinblick auf das »Fördern«. Die Leitfrage, die beides miteinander verbindet, lautet: Welche Informationen über die einzelnen Schülerinnen und Schüler brauchen wir eigentlich, um sie angemessen individuell fördern und beraten zu können, um ihnen helfen zu können, ihr Lernen zu verbessern? Der Bereitstellung und Interpretation dieser Informationen dient die Prozess- oder Förderdiagnostik (a. a. O.). Die Kenntnis eines Lernstandes ist nur eine und häufig nicht die wichtigste Information. Wichtig sind Informationen, die helfen, die Person des Schülers ganzheitlich in den Blick zu nehmen, einschließlich seines sozialen Umfeldes und seiner sozialen Einbindung (Beziehung zu Eltern, Lehrern, Mitschülern). Wichtig ist, sein Lernen unter dem Entwicklungsaspekt zu betrachten, seine Fähigkeiten (im Sinne eines Potenzials) und seinen Lernwillen mit einzubeziehen. Es ist zu klären, welche Stärken und Schwächen bei einem Schüler vorliegen, sein »Förderbedarf« und sein Entwicklungspotenzial sind abzuschätzen. Auf der Basis dieser Erkenntnisse kann der Schüler dann beraten, eventuell ein Förderplan erstellt und das schulische Lernen in Interaktion mit dem Kind/Jugendlichen begleitet werden.

Den klassischen Mess-Gütekriterien – und auch standardisierten diagnostischen Messinstrumenten (Tests) – kommt im Rahmen einer Prozessdiagnostik eine weitaus geringere Bedeutung als in der Ergebnisdiagnostik zu, weil sich ungenaue Einschätzungen bei einer sorgfältigen Lernprozessbegleitung – sowohl in Beratungssituationen als auch im Unterricht – durch wiederholte Beobachtungen und den direkten Austausch mit den betreffenden Kindern/Jugendlichen leichter korrigieren lassen (vgl. dazu Weinert/Schrader, zit. in Helmke 2003, S.89 f.). Mehr dazu im folgenden Abschnitt.

Fallorientierung und Prozessbegleitung

Individuell fördern lässt sich am konsequentesten, wenn sich eine erfahrenere Person (erwachsener Lehrer oder älterer Mitschüler – als Lerncoach, Lernbegleiter, Berater, ständiger Ansprechpartner) einem einzelnen zu fördernden Kind (oder Jugendlichen) ganz persönlich zuwendet: es (bzw. ihn) ernst nimmt, ein Ohr für seine Sorgen und Bedürfnisse hat, es berät, ihm praktische Tipps vermittelt, es aber auch herausfordert und ehrliche Rückmeldungen zu Erfolgen und Fehlschlägen gibt. Soll das im schulischen Raum geschehen, muss für entsprechende Rahmenbedingungen gesorgt und Zeit zur Verfügung gestellt werden. Praktische Beispiele für eine Umsetzung in diesem Sinne bieten im vorliegenden Heft vor allem die Erfahrungsberichte zum Lerncoaching (Karin Heymann) und zu Lernpartnerschaften (Heike Rest).

Interessanterweise findet sich dieses Grundmodell der individuellen Förderung – ohne dass üblicherweise diese Bezeichnung dafür verwendet wird – auch in vielen außerschulischen Zusammenhängen. Dabei braucht man nicht einmal historisch zurückzugehen auf die in früheren Jahrhunderten bei Adligen und wohlhabenden Bürgern verbreitete Hauslehrer-Erziehung. Beispiele finden sich auch in der Gegenwart; ich nenne zwei, die im Prinzip jedem geläufig sind:

  • Weit verbreitet ist der privat organisierte individuelle Nachhilfeunterricht für – bezogen auf die angestrebten Bildungsziele – vergleichsweise leistungsschwache Kinder und Jugendliche.
  • Ein zweites Beispiel bieten Menschen, die im sportlichen und künstlerischen Bereich zu Spitzenleistungen fähig sind und Wert darauf legen, sich noch weiter zu vervollkommnen: Sowohl herausragende Musiker (Pianisten , Geigerinnen, …) als auch Spitzensportler (Tennisspieler, Leichtathletinnen, …) leisten sich bis weit in ihre professionelle Tätigkeit hinein persönliche Lehrer/Coaches, die sich ganz auf die optimale individuelle Entwicklung ihrer meist schon erwachsenen »Schützlinge« konzentrieren.

Diese Beispiele scheinen mir deshalb so interessant, weil sie zeigen, dass bei konsequenter Orientierung am Einzelfall und Konzentration auf die individuellen Besonderheiten und den Prozesscharakter individueller Lern- und Entwicklungsverläufe der Anspruch an explizite diagnostische Aktivitäten durch die Coaches/Lernbegleiter heruntergefahren werden kann. Das intensive Sich-Einlassen auf das einzelne Kind, den einzelnen Jugendlichen und seinen Förderbedarf, die Berücksichtigung subjektiv bedeutsamer Situationen und Erfahrungen, die sich im unmittelbaren Dialog herausarbeiten lassen, das zeitnahe Feedback, ob die gegebenen Anregungen, Hilfen und Empfehlungen Erfolg zeigen und zu persönlichen Fortschritten führen – all das zusammen ersetzt zu einem Großteil formale Diagnosen unter Einsatz standardisierter In­strumente (Schulleistungs- und/oder psychometrische Tests, deren zusätzlicher Einsatz natürlich unter Umständen trotzdem sinnvoll sein kann). Dass ein gelungenes persönliches Coaching stets eine implizite, prozessbegleitende Diagnostik beinhaltet (und dass die Zuverlässigkeit dieser impliziten Diagnostik nicht zuletzt von der Erfahrung und guten Ausbildung des Lernbegleiters abhängt), dürfte deutlich geworden sein. Und ein Mangel an sach- und personangemessener impliziter Diagnostik ist umgekehrt häufig einer der Gründe, wenn der übliche, von Laien (z. B. älteren Schülern) gegebene individuelle Nachhilfeunterricht nicht zum erwünschten Erfolg führt.

Individuelle Förderung im Unterricht

Da für eine konsequente Umsetzung eines persönlichen Coachings in Schulen üblicherweise die Ressourcen fehlen, verdienen die Möglichkeiten, im Klassenunterricht individuell zu fördern, besondere Aufmerksamkeit. Der Erfahrungsbericht von Gabriele Lindemer zeigt, was bei einer Umstellung des herkömmlichen Plenumsunterrichts auf eine gut durchdachte, auf Kompetenzentwicklung und individuelle Förderung fokussierte Binnendifferenzierung möglich ist – auch an einer Regelschule. Doch man kann sich dem Ziel, im und durch Unterricht deutlicher individuell zu fördern, auch auf weniger »radikale« Weise nähern; denn das von G. Lindemer vorgestellte Konzept setzt einen hohen Grad an systemischer Verankerung voraus. Im vorliegenden Zusammenhang muss ich mich darauf beschränken, einige Gesichtspunkte zu nennen, aus denen sich sinnvolle Schritte auf dem Weg zu einem individuell fördernden Unterricht ableiten lassen:

Der Orientierung an individuellen Bezugsnormen muss gegenüber der üblichen an sozialen und sachlichen Bezugsnormen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden; der Unterricht sollte möglichst so angelegt sein, dass jeder Schüler seine Lernfortschritte kontinuierlich erfahren kann.

  • Binnendifferenzierung (bedeutungsgleich: innere Differenzierung) kann auf sehr unterschiedliche Weise realisiert werden: Während in »geschlossenen« Differenzierungsformen die Lehrkraft jedem Schüler seine Aufgaben und Aktivitäten möglichst passgenau und auf seine Lernausgangslage bezogen zuweist (was auf Lehrerseite schnell zu einer Überforderung führen kann und die Schwelle für die Realisierung innerer Differenzierung sehr hoch setzt), werden bei »offenen« Differenzierungsformen vom Lehrer lediglich der organisatorische Rahmen und die Lernmaterialien zur Verfügung gestellt; er selbst bietet sich als Berater und Lernbegleiter an. Ihre konkreten Aktivitäten wählen die Schüler in diesem Falle nach Neigung und/oder Lernbedarf selbstständig aus einem größeren Angebot.
  • Offene Formen innerer Differenzierung setzen voraus, dass die Selbsteinschätzungskompetenzen der Schüler entwickelt werden und sie zumindest ansatzweise Verantwortung für den eigenen Lernprozess übernehmen.
  • Der Unterricht sollte möglichst so angelegt sein, dass jeder Schüler seine Lernfortschritte kontinuierlich erfahren kann; wenn dazu gehört, dass die Mitschüler regelmäßig faires Feedback geben, wird das vom Einzelnen oft als sehr hilfreich erlebt.
  • Generell kommt es bei innerer Differenzierung darauf an, Verstehensprozesse und das Lernvermögen der Schüler richtig einzuschätzen (Diagnose!) sowie die Schwierigkeit von Aufgaben, Fragen und Unterrichtsmaßnahmen auf die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Schüler abzustimmen.
  • Speziell gehört zur individuellen Förderung im Unterricht, für jeden Einzelnen die Anfänge zu sichern und Lücken, wo sie erkennbar werden, rasch zu schließen.
  • Ein individuell fördernder Unterricht setzt einen Wechsel der Blickrichtung voraus. Im Vordergrund steht nicht mehr die Frage: »Welcher Stoff ist laut Lehrplan dran?«, sondern, in Anbetracht angestrebter Kompetenzen: »Was braucht der/die Einzelne?«, »Welche unterschiedlichen Kompeten­zen sollten (beispielsweise) bei Fatima und welche bei Sebastian gefördert werden?«
  • Ein Unterrichtskonzept, das mit dem Anspruch auf individuelle Förderung kompatibel ist, in dem sich offene und geschlossene Formen gut miteinander verbinden lassen, bei dessen Realisierung sich der zusätzliche Aufwand für Lehrerinnen und Lehrer in Grenzen hält und das sich eignet, die soziale und Eigenverantwortung der Schüler systematisch zu fördern, ist das »Kooperative Lernen« (Brüning/Saum 2009).

Einbindung der Schüler und systemische Verankerung

Abschließend sei auf zwei Randbedingungen hingewiesen, die für das Gelingen individueller Förderung im Raum der Schule von entscheidender Bedeutung sind. Die eine Randbedingung betrifft die Rolle der Schüler, die andere die Schule als Organisation.

  1. Kein Schüler kann gefördert werden, wenn er nicht von sich aus bereit ist, sich auf ein entsprechendes Angebot einzulassen. Und Förderung wird stets unbefriedigend in ihren Ergebnissen bleiben, wenn es nicht gelingt, die Schüler zu aktiver Mitarbeit zu bewegen. Gewiss gibt es vieles, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sich Schüler auf individuelle Unterstützungsangebote einlassen: die gefühlte Wertschätzung durch den Lehrer oder Lernbegleiter, eine von wechselseitigem Vertrauen und gutem Willen getragene Beziehung, eine gute Passung zwischen Angebot und tatsächlichem Förderbedarf, ein wirkliches Interesse des Schülers, Forschritte zu machen und etwas zu erreichen. Eine Garantie bietet das alles nicht.
  2. Auf einer ganz anderen Ebene hängt die Wirksamkeit schulischer Förderprogramme davon ab, inwieweit es gelingt, sie an der betreffenden Schule systemisch zu verankern (vgl. die Berichte von Sebastian Boller/Martina Möller und Silvia Greiten). Schon von der Sache her erleichtert es das Diagnostizieren und Fördern, besonders in schwierigen Fällen, wenn mehrere Personen ihre unterschiedlichen Sichtweisen und Einschätzungen im Blick auf ein Kind, einen Jugendlichen miteinander abstimmen: Kollegiale Kooperation ist hier, wie in so vielen anderen schulischen Bereichen, sehr hilfreich (siehe Greiten). Gelingen kann sie aber auf Dauer nur, wenn sie systemisch eingebunden ist, wenn die Schule (Schulleitung und Kollegium) dafür sorgt, dass die so wichtige Zusammenarbeit, die notwendigen Absprachen und Abstimmungen, der systematische Erfahrungsaustausch zeitlich, räumlich und organisatorisch ermöglicht werden. Jedes ernst gemeinte Förderprogramm bedarf neben der operativen Ebene – die die konkreten Diagnose- und Fördermaßnahmen umfasst – einer Metaebene, auf der, gestützt durch entsprechende Schulorganisation, die notwendige kollegiale Kooperation stattfinden kann.

Literatur

  • Arbeitsgruppe Primarstufe an der Universität Siegen (2006): Sind Noten nützlich und nötig? Zifferzensuren und ihre Alternativen im empirischen Vergleich. Eine wissenschaftliche Expertise des Grundschulverbandes, erstellt von H. Brügelmann mit A. Backhaus u. a. Frankfurt
  • Brüning, L./Saum, T. (2009): Erfolgreich unterrichten durch Kooperatives Lernen, Band 2. Neue Strategien zur Schüleraktivierung – Individualisierung – Leistungsbeurteilung –  Schulentwicklung. Essen
  • Deutscher Bildungsrat (1970): Empfehlungen der Bildungskommission. Strukturplan für das Bildungswesen. Stuttgart
  • Groeben, A. v. d. (2003): Verstehen lernen. Diagnostik als didaktische Herausforderung. In: PÄDAGOGIK H. 4/2003, S. 6 – 9
  • Hesse, I./Latzko, B. (2009): Diagnostik für Lehrkräfte. Stuttgart
  • Ingenkamp, K.-H./Lissamnn, U. (2008): Lehrbuch der pädagogischen Diagnostik. Weinheim, 6. Aufl.
  • Kliemann, S.(Hg.) (2008): Diagnostizieren und Fördern in der Sekundarstufe I. Schülerkompetenzen erkennen, unterstützen und ausbauen. Berlin
  • Kultusministerkonferenz (2005): Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16.12.2004. In: Zeitschrift für Pädagogik H. 2/2005, S. 280 – 290 (abrufbar unter http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2004/2004_12_16-Standards-Lehrerbildung.pdf)
  • Paradies, L./Linser, H. J./Greving, J. (2007): Diagnostizieren, Fordern und Fördern. Berlin

Dr. Hans Werner Heymann, Jg. 1946, ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Siegen und Redaktionsmitglied von PÄDAGOGIK.
Adresse: Alte Landstr. 72, 57271 Hilchenbach
E-Mail: heymann(at)paedagogik.uni-siegen.de


Aus: Pädagogik 12/2009