Weiterentwicklung des offenen Unterrichts
Mikroprozesse des Lernens berücksichtigen und Gesamtkonzeption optimieren
Thorsten Bohl
»Nun sagen Sie schon – was ist besser: offener Unterricht oder Frontalunterricht?« Diese Frage taucht bei Lehrerfortbildungen regelmäßig auf. Der Forschungsstand lässt sich so zusammenfassen – und das wäre die passende Antwort: »Es kommt auf Ihre Ziele und auf die Umsetzung an – und zwar im Detail!«. Was ist damit gemeint? Was wird bisher im offenen Unterricht vernachlässigt? Welche Potentiale sind noch nicht ausgeschöpft?
Die Idee des offenen Unterrichts lebt davon, dass sie Schülerinnen und Schülern mehr ermöglicht, mehr zumutet und ihnen mehr Verantwortung und Freiheit übergibt, als in einem – auf den ersten Blick – eng auf zügige Wirksamkeit ausgerichteten Unterricht sinnvoll erscheint. Dieses »Mehr« wird allerdings, sowohl in der Literatur als auch in der Praxis, unterschiedlich verstanden. In der häufigsten Ausprägung geht es dabei um eine methodische und organisatorische Öffnung, beispielsweise um die freie Wahl der Reihenfolge der Aufgabenbearbeitung, des Lernortes oder der Lernzeit. Seltener können die Schülerinnen und Schüler inhaltlich (z. B. freie Themenwahl) oder politisch/persönlich (z. B. Entwickeln eines eigenen Tagesplanes) mitbestimmen (vgl. dazu den Diskussionsbeitrag in diesem Heft).
Die Forschungslage kann hier nur zusammenfassend referiert werden (vgl. dazu Bohl/Kucharz 2009, Lipowsky 2002), sie ist aus verschiedenen Gründen defizitär und problematisch. Ein Beispiel: Eine konsequente Öffnung des Unterrichts lässt sich aufgrund der geringen Verbreitung lediglich in Einzelfallanalysen untersuchen (z. B. Peschel 2006).
In Studien, die die fachlichen Leistungen im eher lehrerzentrierten Unterricht mit denjenigen im eher offenen Unterricht vergleichen, werden dem lehrerzentrierten Unterricht zumeist höhere kognitive Leistungen attestiert, dem offenen Unterricht eher Vorteile im Bereich motivationaler und selbstbezogener Ziele sowie im Persönlichkeitsbereich. Forschungsbefunde stammen aus unterschiedlichen Untersuchungsbereichen: aus der Unterrichtsqualitätsforschung, der rekonstruktiven Unterrichtsforschung oder der empirischen Bildungsforschung – um nur einige zu nennen. Im Folgenden konzentriere ich mich vorrangig auf die Unterrichtsqualitätsforschung, weil aus dieser Perspektive die Weiterentwicklungsmöglichkeiten im Mikrobereich deutlich erkennbar werden.
Balanceakt zwischen Verbesserung von Fachleistung und Mitbestimmung
An Sekundarstufen wird eine Öffnung von Unterricht vorrangig über Stationenarbeit, Freiarbeit und Wochenplanarbeit organisiert. Damit erfolgt zunächst eine methodisch-organisatorische Steuerung von Lernprozessen (vgl. z. B. Niggli/Kersten 1999, S. 287). Hierfür wird von Lehrkräften viel Aufwand investiert (z. B. Zusammenlegung von Fachstunden zu einem Stundenpool; Bereitstellung einer organisatorischen Struktur; Stationen bzw. Planarbeit). Für erfolgreiches Lernen ist jedoch entscheidend, dass sich Lernende fundiert mit herausfordernden, variablen und anspruchsvollen Aufgaben auseinandersetzen: Damit kommen Mikroprozesse des Lernens in den Blick: Wie kann eine Aufgabe inhaltlich strukturiert und angeleitet werden? Wie können Querverbindungen oder Vernetzungen hergestellt werden? Für die Weiterentwicklung des offenen Unterrichts ist daher entscheidend wie es gelingt, die methodisch-organisatorische Ebene mit der vorrangig inhaltlichen Ebene der Mikroprozesse zu verbinden. Literatur und Diskussion zum offenen Unterricht befassen sich traditionell kaum mit derartigen Mikroprozessen. Im Folgenden wird daher dieser Mikrobereich anhand inhaltlicher Strukturierung, herausfordernder Aufgaben und anhand des kumulativen Aufbaus von fachlichem und selbstgesteuertem Lernen beleuchtet. Über Lernberatung und Classroom-Management kann die Nutzung des Lernangebots intensiviert werden. Insgesamt zeigen sich damit mehrere Entwicklungsmöglichkeiten, die bisher noch wenig genutzt werden.
Inhaltliche Strukturierung
Klarheit und Strukturierheit des Lernangebots sind zentrale Merkmale guten Unterrichts (vgl. z. B. Helmke 2003). Beides ist idealerweise darauf ausgerichtet, die Selbststeuerungsmöglichkeiten zu erhöhen, d. h. Unterstützung zu bieten, anhand derer die Schülerinnen und Schüler sich orientieren und inhaltlich vertiefend arbeiten können. Im Gegensatz zu eher lehrerzentriertem Unterricht taucht die Strukturierung nicht verbal, sondern über Ordnungssysteme (Regale, Ablagen), Regeln, Rituale, Zeitstrukturen, oder Plakate und insbesondere über die Beschriftungen und Erläuterungen am Material bzw. an den Aufgaben auf. Studien (vgl. z. B. Hanke 2005; Kleinknecht 2009) belegen, dass die Strukturierung der Materialien/Aufgaben zwar organisatorisch gelingt (z. B. wenn bei Stationenlernen die Aufgabenreihenfolge geklärt ist oder Regeln bei Freiarbeit bekannt sind), die inhaltliche Strukturierung jedoch vernachlässigt wird. Letztere ist jedoch entscheidend für die lernförderliche Tiefenstruktur jeglichen Unterrichts (vgl. Reusser im Diskussionsbeitrag). Auf der Schülerseite kann in ähnlicher Weise gefragt werden, ob die Arbeitsorganisation oder inhaltliche Beschäftigung im Vordergrund steht (vgl. dazu den Beitrag von Breidenstein/Huf in diesem Heft). Die inhaltliche Strukturierung zeigt sich beispielsweise
Klarheit und Strukturierung des Unterrichts ist insbesondere für schwächere Schülerinnen und Schüler sehr hilfreich. Offener Unterricht scheint für leistungsstärkere Schülerinnen und Schüler leistungsfördernd zu sein, sie finden sich flexibel zurecht bzw. bei ihnen kann sogar weniger Strukturierung leistungsfördernder zu sein (z. B. Blumberg u. a. 2004, vgl. den Beitrag von Risse in diesem Heft). Dieser Befund deutet darauf hin, dass die Potentiale des offenen Unterrichts gerade für schwächere Schülerinnen und Schüler noch nicht optimal genutzt werden.
Herausfordernde Aufgaben
Aus verschiedenen Studien ist bekannt, dass im offenen Unterricht vorrangig Übungs- und Wiederholungsaufgaben eingesetzt werden, die im Lernprozess insgesamt wichtig sind, in ihrer Grundstruktur jedoch eine geringere kognitive Herausforderung im gesamten Handlungsablauf beinhalten (vgl. die Beiträge von Riemer und Risse in diesem Heft). Ein anspruchsvolles Lernangebot wird durch einen herausfordernden Arbeitsauftrag initiiert und dann begleitet (z. B. über Lernberatung, Lernhilfen, Hinweise zur inhaltlichen Strukturierung der Aufgabe). Zwei Beispiele verdeutlichen, wie Aufgaben konzipiert und die Bearbeitung durch Lösungshilfen unterstützt werden können:
Ein weiteres Potential liegt demnach darin, die angebotenen Aufgaben selbst und die aufgabenbezogenen Unterstützungsmaßnahmen weiterzuentwickeln.
Classroom-Management
Classroom-Management bzw. Klassenführung beeinflusst Schulleistungen nachweislich (vgl. Kunter u. a. 2006). Im Gegensatz zur zentralen Bedeutung des Classroom-Managements in der empirischen Unterrichtsforschung zeigen sich in der Literatur zum offenen Unterricht dazu kaum systematische Ausführungen. Classroom-Management ist jedoch im offenen Unterricht nicht weniger bedeutsam, gleichzeitig höchst anspruchsvoll. Das Arrangement ist komplexer und ausdifferenzierter als in lehrerzentrierten Phasen. Überträgt man bekannte Merkmale der Klassenführung von Kounin (Neuausgabe 2006) auf offenen Unterricht, dann wird die Veränderung deutlich:
Classroom-Management widerspricht nicht einer neuen Lehrerrolle (Moderator, Berater, Lernbegleiter) im offenen Unterricht, sondern ist in erweiterter Form grundlegend (vgl. Bohl u. a. 2009). Erweitertes Classroom-Management könnte dazu beitragen, Störungen im offenen Unterricht zu verringern, eine ruhige Arbeitsatmosphäre herzustellen und die Nutzung des Lernangebots zu intensivieren.
Lernberatung
Mit offenen Arrangements ist eine Grundstruktur gegeben, in der explizit Zeit für Beratung und Begleitung vorhanden ist. Wie dann jedoch die Mikroprozesse der Beratung aussehen, ist sowohl in der Unterrichtspraxis (vgl. Bohl/Schnebel 2008) als auch in der Forschung (vgl. Kleinknecht 2009; Bräu 2006) bisher weitgehend unbeachtet. Um zu vermeiden, dass ein Beratungsgespräch an den Bedürfnissen des Lernenden vorbei geht, ein ›Mini-Frontalunterricht‹ entsteht oder vorbereitete Lernhilfen ungenutzt bleiben, können folgende Hinweise hilfreich sein:
Derartige Beratungssequenzen spielen sich häufig in sehr kurzen Zeiträumen ab. Lehrpersonen benötigen eine hohe diagnostische, fachwissenschaftliche und (fach-)didaktische Expertise, um in dichten Situationen und unter Zeit- und Handlungsdruck präzise Entscheidungen treffen zu können. Mit Hilfe der Lernberatung könnte das Potential offenen Unterrichts insbesondere für schwächere Schülerinnen und Schüler deutlicher genutzt werden.
Konzeption zur Entwicklung des fachlichen und des selbstorganisierten Lernens
Über Curricula und Bildungspläne ist traditionell der kumulative Aufbau von Fachinhalten vorgegeben und über schuljahresbezogene Inhaltsbereiche konkretisiert. Dass selbständiges Lernen ebenfalls einem kumulativen Aufbau folgt, ist naheliegend. Vor dem Hintergrund einer konsequenten Öffnung und einer zunehmenden Erhöhung der Selbststeuerung ist zu klären, wie eine kumulative Entwicklung sowohl des fachlichen als auch des selbstorganisierten Lernens in einer schulischen Gesamtkonzeption entwickelt werden kann. Im Beitrag von Bucher/Gesser wird deutlich, wie eng die Unterrichts- mit der Schulkonzeption verbunden werden muss, wenn eine systematische Öffnung gelingen soll. Batsching u. a. verdeutlichen in ihrem Beitrag, wie sich innerhalb eines Kollegiums das Konzept des offenen Unterrichts verändert hat.
Im Rahmen kumulativer Lernprozesse geht es nicht um ein mechanisches ›Klettern‹ von Stufe zu Stufe, sondern um eine gezielte Verbesserung der Selbststeuerungsfähigkeit von Lernenden (Abb. 4). Die Stufen sind zudem sehr gut geeignet, um mit Schülerinnen und Schülern über Lernprozesse zu reflektieren. Die zunehmende Steigerung der Öffnungsgrade wird gegenwärtig an Sekundarstufen vorrangig in den Klassenstufen 5 und 6 realisiert. Trotz des zunehmenden Alters scheint der Unterricht im Laufe der Jahre eher lehrer- als schülerzentrierter zu werden. Risse beschreibt in ihrem Beitrag, wie eine Schulkonzeption zum offenen Unterricht über die Schuljahre hinweg aussehen kann. Möglichkeiten einer konsequenten Öffnung beschreibt Peschel im Rahmen der Diskussion am Ende des Schwerpunkts.
Das Potential einer kumulativen Konzeption liegt auch darin, dass Lehrkräfte entlastet werden, weil sie in einer bestimmten Zeitphase (z. B. Schuljahr) einen klar definierten Teil der Selbststeuerungsfähigkeit vermitteln – und nicht jeder immer von vorne beginnen muss.
Abschließende Überlegungen
Aufgrund der Forschungslage eröffnen sich Entwicklungsmöglichkeiten, von denen hier und in diesem Heft einige benannt sind – mit besonderem Fokus auf die Weiterentwicklung im Mikrobereich der Aufgaben und Interaktionen sowie mit Blick auf die Gesamtkonzeption einer Schule. Insgesamt wird deutlich, dass die Potentiale des offenen Unterrichts sowohl hinsichtlich der Verbesserung der fachlichen Schülerleistungen als der Optimierung der Konzeption noch nicht ausgeschöpft sind.
Literatur:
Dr. Thorsten Bohl, Jg. 1965, ist Professor für Erziehungswissenschaft/Schulpädagogik an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen.
Adresse: Institut für Erziehungswissenschaft, Münzgasse 22 – 30,
72070 Tübingen
E-Mail: thorsten.bohl(at)uni-tuebingen.de
Aus: Pädagogik 4/2009