Praktikanten, Referendare und Mentoren

Praxis bildet – aber wie?
Gelingensbedingungen für Praxisphasen und Vorbereitungsdienst

Warum sind die Praxiselemente in der Lehrerausbildung so wichtig? Worauf kommt es beim »praktischen Lernen« – sowohl in der ersten als auch in der zweiten Phase – vor allem an? Wie lassen sich bei der Entwicklung der beruflichen Handlungsfähigkeit Kompetenzorientierung und Orientierung an den subjektiven Sinn- und Erlebnishorizonten der Betroffenen sinnvoll miteinander verbinden? Ein Klärungsversuch.

Lehramtsanwärter, Praktikanten und Mentoren: Rollen und Erwartungen

Zwischen Referendaren bzw. Lehramtsanwärtern auf der einen Seite und Praktikanten auf der anderen (hier und im Folgenden sind stets Menschen beiderlei Geschlechts gemeint) gibt es sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten. Die Unterschiede sind vor allem dienstrechtlicher und besoldungsmäßiger Art: Die einen sind Beamte auf Widerruf, die anderen »nur« Studenten; die einen bekommen Geld für ihre Arbeit, die anderen nicht; die einen sind längerfristig an derselben Schule, die anderen nur kurze Zeit. Selbstverständlich befinden sich Praktikanten und Referendare auch in verschiedenen Stadien ihrer Lehrerausbildung, und in vielen Ausbildungskonzepten werden die unterschiedlichen Zielsetzungen betont: In den Praxisphasen während des Studiums soll es eher darum gehen, die Lehramts-Studierenden den Perspektiv- und Rollenwechsel vom Schüler zum Lehrer erfahren zu lassen sowie ihnen eine – wie es bisweilen etwas hochgestochen heißt – »theoretisch-konzeptionelle Durchdringung des Berufsfeldes« zu ermöglichen (Ministerium 2007, S.43 f.); erst im »Vorbereitungsdienst« steht dann eindeutig die Einübung der beruflichen Handlungsfähigkeit im Vordergrund.Dennoch: Denkt man an die praktischen Probleme, wie sie sich aus Sicht der Praktikanten und Lehramtsanwärter einerseits, aus der der betreuenden Schulen andererseits darstellen, fallen stärker die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Gruppen ins Auge (vgl. dazu auch den Beitrag von Marc Böhmann):

  • Sowohl Praktikanten als auch Lehramtsanwärter sind im Blick auf den angestrebten Beruf »noch Lernende«, denen das selbstständige und voll eigenverantwortliche berufliche Handeln – abgesehen vom Sonderfall des »bedarfsdeckenden Unterrichts« im Vorbereitungsdienst – noch nicht zugestanden wird.
  • Den Zugehörigen beider Gruppen werden deshalb erfahrene Kollegen als Mentoren oder Betreuungslehrer an die Seite gestellt, um sie anzuleiten und zu beraten, um ihre Lernprozesse, ihre unterrichtlichen »Gehversuche«, ihre Auseinandersetzung mit schul- und unterrichts­praktischen Problemen kritisch zu begleiten.
  • Das Rollenverhältnis zwischen Mentor auf der einen und Praktikant bzw. Lehramtsanwärter auf der anderen Seite ist im Prinzip ein hierarchisches: Der Mentor ist zwar in beiden Fällen kein Vorgesetzter im formalen Sinne, hat aber dennoch Weisungsbefugnisse.
  • Gegenüber beiden Gruppen stehen Mentoren und Betreuungslehrer unter einem gewissen Erwartungsdruck: Idealerweise sollten sie sich in ihrem eigenen Handeln als Vorbild präsentieren, zumindest aber müssen sie bereit sein, das eigene berufliche Handeln einer Fremdbeurteilung auszusetzen – was zumindest Lehrern schwer fällt, die gewohnt sind, als Einzelkämpfer zu fungieren und im Unterricht lediglich minderjährigen (oder gerade einmal formell erwachsenen) Schülern gegenüberzustehen.
  • Trotz der unterschiedlichen Ausbildungsphasen mit ihren oben angedeuteten unterschiedlichen Zielsetzungen geht es im Prinzip um ähnliche Kompetenzen, die die angehenden Lehrer sich über ihre Praxisbegegnungen aneignen sollen – lediglich der Grad der Annäherung an diese Kompetenzen ist unterschiedlich. Deshalb ist es durchaus sinnvoll, dass in den 2004 von der KMK verabschiedeten »Standards für die Lehrerbildung« (Kultusministerkonferenz 2005) nicht zwischen der ersten und der zweiten Phase der Lehrerbildung unterschieden wird, sondern nur zwischen »Standards für die theoretischen« und »Standards für die praktischen Ausbildungsabschnitte« – denn in beiden Ausbildungsphasen sollten sich Theoretisches und Praktisches miteinander verschränken.

Zusammengenommen: Obwohl der berufliche Status der Lehramtsanwärter selbstverständlich dem der voll ausgebildeten Lehrer viel näher ist als derjenige der Praktikanten, sind doch die faktischen Rollen von Praktikanten und Lehramtsanwärtern im Kollegium – als Lernende, noch nicht »Fertige« und Abhängige – durchaus vergleichbar; und obwohl ein Mentor partiell gegenüber einem Lehramtsanwärter und einem Praktikanten unterschiedliche Aufgaben wahrzunehmen hat, ist doch sein Verhältnis zu ihnen – das des erfahrenen Praktikers zum vergleichsweise noch wenig erfahrenen Anfänger – ein ähnliches.
Das spricht dafür, Praktikanten, Referendare und Mentoren, ihre Beziehungen zueinander und die mit den unterschiedlichen Rollen verbundenen Probleme, Risiken und Chancen in ein- und demselben Themenschwerpunkt zu behandeln.

Wann können praktische Ausbildungsabschnitte als gelungen gelten?
Auf diese Frage lässt sich, wenn man ein Praktikum oder das Referendariat (als Ganzes oder in Teilen) in den Blick nimmt, einerseits eine formale, gewissermaßen »technische« Antwort geben. Es lässt sich aber auch eine geben, die das Erleben und die Sinnhorizonte der Beteiligten in den Vordergrund stellt – oder zumindest als wesentlich mitberücksichtigt. Ich stelle beide Antworten vor und diskutiere dann ihre wechselseitige Ergänzungsbedürftigkeit.

Eine formale oder »technische« Antwort
Ein Praktikum, ein Referendariat ist dann als gelungen zu betrachten, wenn in ihm die Ausbildungsziele, denen es dienen sollte, erreicht wurden.
Die gegenwärtig verbindlichste Zielbeschreibung für die Lehrerausbildung in Deutschland findet sich in den schon erwähnten KMK-Standards (Kultusministerkonferenz 2005): Hier werden die bildungswissenschaftlichen (d. h. nicht-fachlichen) Kompetenzen, die im Rahmen der »praktischen Ausbildungsabschnitte« erworben werden sollen, detailliert beschrieben – und zwar orientiert an den Bereichen Unterrichten, Erziehen, Diagnose/Beurteilung/Beratung, Fort- und Weiterbildung sowie Schulentwicklung; insgesamt handelt es sich um elf Kompetenzen und 44 ihnen zugeordnete Einzelstandards, zu denen noch 39 Standards »für die theoretischen Ausbildungsabschnitte« kommen (der Aufbau des Katalogs wird in Abb. 1 anhand der Kompetenz 1 exemplarisch verdeutlicht).
Das Gelingen des jeweiligen schulpraktischen Ausbildungsabschnitts ließe sich also – zumindest im Prinzip – wie folgt »operationalisieren«: Praktikantin A (oder Lehramtsanwärterin B) hat ihr Praktikum (ihren Vorbereitungsdienst) erfolgreich absolviert, wenn sie anschließend über die durch die Standards festgelegten Kompetenzen … verfügt. Um welche Kompetenzen es jeweils konkret geht, könnte in Studien- und Ausbildungsordnungen unter Bezug auf den KMK-Katalog exakt festgelegt werden (vgl. Kreß/Sossalla in diesem Heft, die auf eine ähnliche Weise vorgehen).
Nun habe ich mit dem oben formulierten Einschub »zumindest im Prinzip« implizit eine Einschränkung vorgenommen, die ich kurz erläutern möchte: Der Konkretisierungsgrad der vorliegenden KMK-Standards reicht für eine Operationalisierung, die diesen Namen verdient, schlicht nicht aus. Um das zu erkennen, braucht man nur einen beliebigen Standard herauszugreifen, etwa den zweiten in der zweiten Tabellenspalte von Abb. 1: »Die Absolventinnen und Absolventen … wählen Inhalte und Methoden, Arbeits- und Kommunikationsformen aus«. Ist hier wirklich die Kompetenz von Belang, in den benannten Feldern eine Auswahl treffen zu können? Kann nicht jeder Anfänger auf der Basis reinen Buchwissens irgendeine Auswahl treffen, die diesem Standard formal gerecht wird? Welche Kriterien sollten der Auswahl zu Grunde liegen? Ist nicht die entscheidende Frage die, was die getroffene Auswahl im Blick auf die speziellen Bedingungen der Klasse sinnvoll, angemessen, anregend, lerninitiierend macht?
Diese Frageliste ließe sich ohne Weiteres verlängern, und ähnlich kritisch könnte man jeden der insgesamt 83 Standards hinterfragen. Genau genommen bietet der KMK-Katalog keine »Kompetenzstandards« im strengen Sinne, sondern eine interessante, aber im Einzelnen recht vage ausformulierte Übersicht über verbreitete oder anstrebenswerte Studieninhalte (in der linken Spalte) und übliche oder wünschenswerte Lehrertätigkeiten (in der rechten Spalte). Den hochgesteckten Ansprüchen, die mit dem bildungspolitischen Programm der Standard- und Kompetenzorientierung verknüpft sind, wird die Zusammenstellung jedenfalls nicht annähernd gerecht (ähnlich lässt sich im Blick auf die schulischen Bildungsstandards argumentieren, vgl. Heymann 2009).
Betonen möchte ich allerdings, dass mit dieser Kritik an den KMK-Standards die Binnenlogik der formal-technischen Antwort auf die Gelingensfrage nicht ausgehebelt wird. Die Einseitigkeit der mit dieser Sichtweise verbundenen Antwort wird erst deutlich, wenn man ihr die nun zu erläuternde konträre Sichtweise gegenüberstellt.

Eine erlebnis- und sinnorientierte Antwort
Ein Praktikum, ein Referendariat ist dann als gelungen zu betrachten, wenn die betroffenen Praktikanten/Lehramtsanwärter die darin gemachten Erfahrungen im Blick auf den angestrebten Beruf als sinnvoll, klärend, bereichernd und hilfreich erleben konnten.
Für eine solche persönliche Bewertung spielen die im Praktikum oder Vorbereitungsdienst erfahrenen menschlichen Beziehungen eine herausragende Rolle. Das Verhältnis zwischen Mentoren und Praktikanten bzw. Lehramtsanwärtern wird sehr unterschiedlich erlebt, und zwar von beiden Seiten: Die Spannbreite reicht von höchst unbefriedigend, eventuell sogar extrem belastend (vgl. die Erfahrungsberichte von Claudia Wolfram, Stefanie Bach, teilweise auch Tanja Köster) bis hin zu gelingend, bereichernd, vielleicht sogar beglückend (vgl. Romina Matthes, aus etwas anderer Perspektive auch wieder Tanja Köster). Eine wichtige Rolle in der Entwicklung des Verhältnisses im Einzelfall spielt einerseits ganz sicher die persönliche Passung. Sympathie, grundsätzliche Übereinstimmung in pädagogischen, didaktischen und fachspezifischen Zielen, ein Blick für die Kompetenzen und besonderen Stärken des jeweils anderen etc. können den Aufbau einer positiven Beziehung enorm erleichtern. Aber auch ohne besondere persönliche Passung trägt die beidseitige Bereitschaft, sich auf den anderen akzeptierend einzulassen, wesentlich zum Gelingen des Ausbildungsverhältnisses bei. Im besten Fall kommt es zu einer wechselseitigen Bereicherung (vgl. Köster und Böhmann). Andererseits spielen auch systemische und schulklimatische Faktoren eine wichtige Rolle: Welcher Stellenwert wird der Ausbildung des eigenen beruflichen Nachwuchses an der betreffenden Schule eingeräumt – von der Schulleitung, vom Kollegium? Gibt es klare Informations- und Beratungsstrukturen sowie durchdachte Informationsmaterialien und ‑wege? Werden als Ausbildungskoordinatoren Kollegen gewonnen, die Rückhalt im Kollegium haben und soziales Gespür mit Organisationstalent verbinden können? Werden von ihnen (oder anderen zentral zuständigen Personen) nicht nur die Lehramtsanwärter, sondern auch die Praktikanten betreut und an geeignete Mentoren vermittelt?
Im Kontrast der Erfahrungsberichte von Matthes und Bach wird die Bedeutung der genannten Faktoren konkret nachvollziehbar. Das Gelingen (bzw. das Misslingen) ihres Praktikums ist für sie – vor allem konkreten Kompetenzerwerb – bedingt durch Erfahrungen wie akzeptiert und ernst genommen werden, mit Augenmaß angeleitet werden, Freiräume zugestanden bekommen, kurz: an das Zusammenspiel von menschlichen Beziehungen und Organisation geknüpft. Und in dem Bericht von Claudia Wolfram, die wegen der problematischen Beziehungen im Kollegium und der fehlenden Akzeptanz für ihr Verständnis der Lehrerrolle beinahe mit ihrem Vorbereitungsdienst gescheitert wäre, sind es abermals menschliche Beziehungen, die – gewissermaßen kompensierend – die Rettung bringen: nämlich die zwischen ihr und ihren Schülern (und in diesem Falle auch zu ihren Ausbildern auf Seminarebene).
Damit kein Missverständnis aufkommt: Selbstverständlich ist mein Plädoyer für das Ernstnehmen der erlebnis- und sinnorientierten Antwort auf die Gelingensfrage nicht als eine Absage an den Erwerb von identifizierbaren beruflichen Handlungskompetenzen zu lesen. Ich denke allerdings, 

  1. dass die Aneignung und Entfaltung der angestrebten berufspraktischen Handlungskompetenzen einer Grundlegung bedarf, die sich – einschlägige Motivation und persönlichkeitsspezifische Eignung der angehenden Lehrer vorausgesetzt – in der Tat durch die Faktoren »Beziehung« und »Organisation« beschreiben lässt, und
  2. dass sich die anzueignenden Kompetenzen nicht einfach durch konsequente Abarbeitung eines Katalogs erwerben lassen, wie es die Veröffentlichung der KMK (2005) suggerieren könnte, sondern dass mit den Praxisbegegnungen im Rahmen der Lehrerbildung ein Boden bereitgestellt werden muss, auf dem die individuelle Kompetenzentwicklung als ganzheitlicher biografischer Prozess wichtige Impulse bekommt, ein Nährboden, auf dem – bildhaft gesprochen – die Pflänzchen individueller beruflicher Professionalisierung sprießen, Wurzeln schlagen, wachsen, blühen, Früchte tragen, kurz: gedeihen können.

Die Tatsache, dass die unmittelbar Betroffenen das Gelingen bzw. Misslingen ihrer Praxisbegegnungen in der Regel anhand von Kriterien beschreiben, die mit den zur Zeit aktuellen Kompetenz- und Standardformulierungen nur wenig zu tun haben, sollte jedenfalls zu denken geben – und zumindest die Einseitigkeit und Begrenztheit einer »formal-technischen« Sicht auf Sinn und Zweck der praktischen Ausbildungsabschnitte vor Augen führen. Kompetenzorientierung auf der einen Seite und Sinn- und Erlebnisorientierung auf der anderen müssen sich also sinnvoll ergänzen.
Auch Kreß und Sossalla flankieren in ihrem Konzept zur Mentorenausbildung die Kompetenzorientierung, die bei ihnen zunächst im Vordergrund steht, durch organisations- und beziehungsorientierte Momente.

Erfahrungslernen und Regellernen
Es gibt Einsichten zum Lehrerberuf, die in den Wogen der Reformwellen immer wieder unterzugehen drohen. Eine solche Einsicht ist: Der nachvollziehbare Wunsch, den »guten Lehrer« über eine wissenschaftlich perfektionierte Ausbildung technisch verfügbar zu machen, ist nicht erfüllbar. Daran sollte angesichts der gegenwärtigen Umstrukturierung der Lehrerbildung in Deutschland und im Blick auf die Hoffnungen, die bisweilen an das Problemlösungspotenzial von und die Ausbildungsoptimierung durch Kompetenzstandards geknüpft werden, nachdrücklich erinnert werden.
Schon vor mehr als einem Vierteljahrhundert warb Hartmut von Hentig (1984, S. 143 [Erstveröffentlichung 1980]) dafür, die Prätention aufzugeben, »es lasse sich der gute Lehrer durch gute Lehre herstellen. Die Lehrerbildung muss dem zukünftigen Lehrer Mut machen, mit einem großen Spielraum zu leben – mit einigen festen Regeln und viel Unregelmäßigkeit, mit einigen ganz vertrauten und begründeten Erkenntnissen und viel Improvisation – Fußgänger zu sein und nicht Schienenfahrer, ein Handwerker oder Künstler und nicht Präzisionstechniker«. Hentig war weder der erste und noch der letzte Pädagoge, der in diese Richtung argumentierte (vgl. Herrmann 2002, Rumpf/Kranich 2000). Praktika während des Studiums stellen ebenso wie die zweite Phase der Lehrerbildung – wenn man die Bilder v. Hentigs aufgreifen will ­– Fußgängerzonen und Handwerksbetriebe (oder Ateliers) dar. Die Praktikanten und Lehramtsanwärter wenden nicht einfach Regelwissen an, das sie sich in den theoretischen Phasen ihrer Ausbildung angeeignet haben – natürlich tun sie das auch, aber das ist nicht entscheidend –, sondern sie bauen durch Beobachtung von anderen (erfahrenen »Fußgängern«, »Handwerkern« und »Künstlern«), durch Fragen an sie und Hinweise von ihnen, durch Mittun, durch Innehalten und Reflektieren, durch Registrierung der Wirkungen des eigenen Tuns im Blick auf die Schüler, durch Abgleichen vorhandener Überzeugungen und (theoretischer) Wissensbestände mit den aktuellen Erfahrungen peu à peu eine eigene Könnerschaft, eigene berufs­praktische Kompetenzen auf.
Diese Sicht auf die Lehrerbildung ist in hohem Maße kompatibel mit einer, für die Hans Georg Neuweg in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit und Zustimmung erhalten hat. Er hat aus der Theorie des impliziten Wissens von Michael Polanyi Folgerungen für die Lehrerbildung gezogen (u. a. Neuweg 2006, 2007) und sehr eindringlich gezeigt, dass Könnerschaft im Lehrerberuf nur zu einem verschwindend geringen Teil auf der »Anwendung« von Theorie in Gestalt explizierbarer Regeln beruht, dass erfolgreiches Handeln vielmehr darin besteht, sich – auf der Basis von (oftmals unexplizierbarer) Erfahrung – auf die Besonderheiten der aktuellen Situation einzulassen. Der kompetente Lehrer entwickelt ein intuitives Gespür dafür, was in der gegebenen Situation erforderlich ist, und kann, nach den Gründen für seine Entscheidungen befragt, oft selbst gar nicht genau sagen, warum er so und nicht anders gehandelt hat. Diese Form von Professionalität ist eben nicht allein durch die Aneignung von Regelwissen erlernbar und noch weniger durch das Abarbeiten von katalogisierten Kompetenzstandards, sondern durch waches, aufmerksames, kommunikativ begleitetes (und dann immer wieder auch theoretisch reflektiertes) Handeln und Mittun in pädagogischen Anforderungssituationen.
Weil das so ist, sind die Praxiselemente in der Lehrerbildung so unverzichtbar. Und darum ist es auch so wichtig, von allen Seiten – von den Praktika vorschreibenden und begleitenden Hochschulen, von den ausbildenden Studienseminaren, von den beteiligten Schulen wie von den Praktikanten und Lehramtsanwärtern selbst – Sorge dafür zu tragen und Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass diese Ausbildungsphasen gelingen können.

Praxisphasen als Eignungsspiegel
Eine wichtige Funktion der Praxisphasen während des Studiums (und zum Teil auch noch eine des Referendariats) sollte die Eignungsüberprüfung sein. Die Lehramtsstudierenden erhalten durch die Praktika gewissermaßen Gelegenheit zu einem Experiment mit der eigenen Person. Indem sie sich den pädagogischen, didaktischen, organisatorischen und kollegial-menschlichen Anforderungen der Praxis mutig stellen, den Rollenwechsel vom Schüler zum Pädagogen ernst nehmen und ehrlich zu sich selbst sind, bietet sich ihnen eine großartige Chance zur Überprüfung ihrer Eignung für diesen Beruf: Ist es das, was ich mir als Beruf vorstelle? Ist mein »Draht« zu Kindern und Jugendlichen, mein Interesse an ihrem Lernen und ihrer Entwicklung, mein Selbstbewusstsein hinreichend stark, um ein Gegengewicht zu den unvermeidlichen Enttäuschungen und Frustrationen zu bilden, die ich, wenn vielleicht auch nicht an mir selbst, so doch bei vielen Kollegen wahrnehme? Traue ich mir zu, einen solchen Alltag mit seinen sehr vielfältigen Belastungen über Jahrzehnte durchzuhalten und immer wieder neu zu gestalten? Fühle ich mich in der Lage und habe ich Lust, die mir noch fehlenden Kompetenzen im Laufe meiner weiteren Ausbildung (und später dann on the job und durch Fortbildung) anzueignen?
Eine solche Selbstüberprüfung ist natürlich irrtumsanfällig: Sowohl zu wenig herausfordernde (im Sinne von: unrealistisch milde) als auch besonders schlechte Rahmenbedingungen an der Ausbildungsschule (vgl. Bach, Köster und Wolfram) können zu folgenreichen Über- und Unterschätzungen des eigenen Potenzials verleiten – deshalb sind Praxis-Erfahrungen an unterschiedlichen Schulen so wichtig. Ein noch gravierenderes Problem tritt auf, wenn Studierende, denen es mit hoher Wahrscheinlichkeit an persönlichkeitsspezifischen Voraussetzungen für den Lehrerberuf mangelt – ob in sozialer, intellektueller oder beiderlei Hinsicht –, für ihre eigenen Schwächen blind sind. Hier kommen verantwortungsbewusste Mentoren in eine besonders schwierige Situation, weil sie in einer doppelten Verpflichtung stehen: einerseits den Praktikanten oder Lehramtsanwärter menschlich anzunehmen, zu stützen, zu ermutigen, andererseits aber auch die Vermutung einer eventuellen Nicht-Eignung und die Indizien, die zu dieser Vermutung führen, offen und nicht-verletzend zu kommunizieren.

Konkrete Hinweise für Praktikanten, Referendare und Mentoren
Die in diesem Heft versammelten Beiträge geben viele praktische Anregungen für die Gestaltung von Praktikum und Vorbereitungsdienst. In einem Teil der Beiträge geschieht das eher indirekt, indem exemplarisch über Scheitern bzw. Gelingen berichtet wird: Die von Claudia Wolfram, Stefanie Bach und (am Rande) von Tanja Köster mitgeteilten bestürzend negativen Erfahrungen sind in dieser Hinsicht ebenso lehrreich wie umgekehrt der begeisterte Bericht von Romina Matthes über ein rundum als gelungen erlebtes Praktikum. In den übrigen Beiträgen werden Gestaltungsvorschläge direkt thematisiert. Die vielen konkreten Anregungen und Tipps, die von Lars Schmoll, Volker Kress und Katrin Sossalla gegeben werden, richten sich vornehmlich an Mentoren. Bei Marc Böhmann und Tanja Köster, die den Problemen und Erfordernissen auf der Beziehungsebene viel Aufmerksamkeit schenken und darauf bezogene Lösungsmöglichkeiten ansprechen, werden beide Seiten berücksichtigt; hier finden sich auch viele praktische Hinweise für Praktikanten bzw. Lehramtsanwärter.

Literatur

  • Hentig, H. v. (1984): Vom Verkäufer zum Darsteller. Absagen an die Lehrerbildung. In: Becker, H./Hentig, H. v. (Hg.): Der Lehrer und seine Bildung. Frankfurt/Main, S. 99 – 146
  • Herrmann, U. (2002): Wie lernen Lehrer ihren Beruf? Weinheim/Basel
  • Heymann, H. W. (2009): Kompetenz- und Standardorientierung im Mathematikunterricht. In: PÄDAGOGIK, H. 7 – 8/2009, S. 74 – 79
  • Kultusministerkonferenz (2005): Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften. Beschluss derKultusministerkonferenz vom 16.12.2004. In: Zeitschrift für Pädagogik, H. 2/2005, S. 280 – 290 (abrufbar unter www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2004/2004_12_16-Standards-Lehrerbildung.pdf)
  • Ministerium für Innovation, Wissenschaft, Forschung und Technologie des Landes Nordrhein-Westfalen (2007): Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern. Düsseldorf (abrufbar unter www.innovation.nrw.de/downloads/Broschuere.pdf)
  • Neuweg, G. H. (2006): Das Schweigen der Könner. Strukturen und Grenzen des Erfahrungswissens. Linz
  • Neuweg, G. H. (2007): Lob der Spontaneität. Oder: Wie viel Planung braucht der Mensch? In: PÄDAGOGIK, H. 10/2007, S. 34 – 37
  • Rumpf, H./Kranich, E.-M. (2000): Welche Art von Wissen braucht der Lehrer? Stuttgart

Dr. Hans Werner Heymann, Jg. 1946, ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Siegen und Redaktionsmitglied von PÄDAGOGIK.
Adresse: Alte Landstr. 72, 57271 Hilchenbach
E-Mail: heymann(at)paedagogik.uni-siegen.de


Aus: Pädagogik 9/2009