Aufgabenfelder und Anforderungen

Die meisten erinnern »ihren« Klassenlehrer und Klassenlehrer(innen) erinnern sich häufig an »ihre« Klassen. Dies deutet auf eine Beziehung hin, die Biographien von Schüler(inne)n und Lehrer(inne)n in besonderer Weise geprägt haben. Erinnert werden Geschichten und Erlebnisse, in denen der Klassenlehrer für die eigene Entwicklung hilfreich – manchmal aber auch behindernd war. Da gibt es Erinnerungen wie: Mein Klassenlehrer hat an mich geglaubt, auch wenn meine Leistungen nicht immer so waren, wie erwartet. Oder: Einmal hat er mich zu sich bestellt und mir sehr deutlich gemacht, dass es so nicht weitergeht. Aber auch: Die Klassenreise in der 13. Klasse zu den »alten Griechen« war prägend für viele Jahre.

Mit der Erzählung von Geschichten könnte man die Aufgaben der Klassenleitung in ihrer vollen Komplexität beschreiben. Aber die Kraft der Geschichten haben wir in uns.

Was darüber hinaus vielleicht zur Orientierung beitragen könnte, ist das Sezieren der Arbeit des Klassenlehrers. Wir beginnen diesen Schwerpunkt deshalb mit einer kurzen Skizze der Aufgaben und Anforderungen, ohne sie gleich mit Erfahrungen und Praxishilfen zu verbinden. Die folgenden Beiträge füllen das Aufgabenfeld dann mit vielfältigen Anregungen – und auch mit Geschichten.

Aufgabenfelder der Klassenleitung

Die Struktur der Beiträge dieses Heftes orientiert sich an sechs Aufgabenfeldern der Klassenleitung.

  • Die Gestaltung der Beziehung zwischen Klassenlehrer(in) und Schüler(inne)n – vermutlich die Basis und auch die Königsdiszi­plin der Klassenlehrertätigkeit.
  • Die Gestaltung einer Klassengemeinschaft und deren Entwicklung zu einer Lerngemeinschaft.
  • Die Gestaltung der Übergänge in die Sekundarstufe I sowie die Sekundarstufe II.
  • Die Gestaltung des Klassenraums als Lernraum einschließlich einer gemeinsamen Entwicklung von Kriterien für Sitzordnung und Raumgestaltung.
  • Die Gestaltung der Zusammenarbeit mit den Eltern als Partner, Unterstützer und Begleiter der Klassenleitung.
  • Die Gestaltung der Kooperation mit anderen Kollegen – in diesem Heft thematisiert als Querkategorie in verschiedenen Beiträgen.

Qualität von Klassenleitung

Als zentrale Erkenntnis der wenigen Forschungsarbeiten über das Verhalten von Klassenleitungen stellt Johannes Mayr (2009) fest: »Es gibt kein Idealbild der Klassenführung … – wir haben es vielmehr mit einem breiten Spektrum an Handlungsoptionen zu tun. Erfolgreiche Lehrpersonen generieren aus diesen ein maßgeschneidertes Führungsverhalten das ihren eigenen Kompetenzen und Handlungspräferenzen ebenso entspricht wie der Klassensituation …Sie handeln kongruent mit sich selbst, mit ihren Kommunikationspartnern und mit dem Kontext. Ihr Führungsverhalten ist »stimmig« (ebd., S. 34).

Der Begriff der »Stimmigkeit« als Hauptmerkmal für erfolgreiche Klassenleitung soll ermuntern, ein auf die eigene Person abgestimmtes Verhaltensrepertoire zu entwickeln und gleichzeitig einen Rahmen zu bestimmen, der für die Reflexion der eigenen Praxis geeignet ist. So ist beispielsweise keine der oben genannten Dimensionen des Aufgabenfeldes verzichtbar und gleichzeitig gibt es in den einzelnen Feldern Handlungsmöglichkeiten, die je nach Person und Kontext »stimmig« gestaltet werden sollten.

Damit setzen wir in diesem Heft auf die Intelligenz der Praxis und auf die Möglichkeit der Leserinnen und Leser, diese Erfahrungen so in das eigene Handeln zu integrieren, dass sie »stimmig« sind. Der folgende Blick auf die Kerngedanken der einzelnen Beiträge gibt einen guten Einblick in die Anforderungen in den einzelnen Aufgabenfeldern.

Beziehungen gestalten

Ein typisches Merkmal der Klassenleitung ist eine besondere Beziehung zwischen Klasse und Lehrperson. Ihr pädagogisches Konzept, ihre Formen des Kontakts und ihre Rituale wirken stilbildend. Gerade die Gestaltung der Beziehung wird individuell akzentuiert sein; deshalb sollte sie auch mit den Grundlinien der Schule verbunden sein, um Beliebigkeit zu vermeiden.

Verallgemeinerbar für diese erste Dimension scheint, was Arne Gudjons als zwei Schlüssel zur Beziehungsarbeit benennt: Der erste Schlüssel ist eine von Zutrauen geprägte Haltung. Der zweite Schlüssel ist das Prinzip der Partizipation, das beispielsweise in einem Klassenrat oder einem regelmäßigen Feedback lebendig werden kann – aber auch durch die Beteiligung von Eltern und Möglichkeiten der Begegnung beispielsweise auf Reisen.

Wie bedeutsam die Gestaltung dieser Beziehung ist, wird besonders deutlich, wenn ein Lehrer einmal keinen Zugang zu den Kindern und den Eltern seiner Klasse bekommt. Karin Heymann wagt es, eine solche Phase in ihrem Lehrerinnenleben zu beschreiben. Sie zeigt damit, dass sich gerade dieser Teil der Arbeit nicht »erzwingen« lässt.

Lerngemeinschaften gestalten

Geht man davon aus, dass jede Beziehungsarbeit in der Schule vor allem auf eine Ermöglichung des Lernens zielt, dann ist die Arbeit an der Beziehung die Basis zur Entwicklung einer Lerngemeinschaft.

Sie entsteht nicht von selbst, sondern im Prozess der Anbahnung, der Übung, der Weiterentwicklung, der Reflexion und der Würdigung – so Marie-Joan Föh in ihrem Beitrag, in dem sie die Entstehung einer Lerngemeinschaft in diesen fünf Schritten beschreibt.

Verallgemeinerbar ist die Verantwortung der Klassenleitung für den systematischen Aufbau einer Lerngemeinschaft und die Entwicklung einer unterstützenden Struktur beispielsweise durch Vereinbarungen für die Arbeit in Tischgruppen und die dafür notwendigen Absprachen im Lehrerteam.

Als goldene Regel gilt, dass die Gestaltung der ersten vier Wochen von besonderer Bedeutung für die Bildung einer Arbeitsgemeinschaft ist. Wie zu Beginn der 5. Klasse Verbindlichkeit geschaffen, Verantwortung geteilt und demokratische Strukturen eingeführt werden, davon berichtet Steffi Becker.

Übergänge gestalten

Klassenlehrer(innen) sind Paten bei der Gestaltung der Übergänge zwischen Schulstufen und Schulformen. Wer den ersten vier Wochen in der Sekundarstufe besondere Aufmerksamkeit schenkt – wie Steffi Becker – oder als Tutor den Beginn der 11. Klasse begleitet – wie Volker Kress –, der übernimmt eine für Klassenleitung typische Verantwortung.

Verallgemeinerbar ist, dass diese Übergänge sensible Phasen in den Bildungsbiographien von Schüler(inne)n sind, bei denen Klassenleitungen beziehungsweise Tutor(inn)en als verlässliche Ansprechpartner von besonderer Bedeutung sind. Wird dies nicht beachtet, kann es Leistungseinbrüche im Übergang zur 5. Klasse oder Orientierungsprobleme bei der Eingewöhnung in die losen Strukturen des Kurssystems der Oberstufe geben. Volker Kress beschreibt, wie er als Tutor die Zusammenarbeit mit seinem Kurs gestaltet hat: mit Unterstützungsstrukturen, Beratungsgesprächen und der Begleitung von Übergängen.

Lernräume gestalten

Auf einsame Entscheidungen zur Sitzordnung und zur Raumgestaltung können sowohl Schüler als auch Lehrer sehr empfindlich reagieren. Denn im Raum als drittem Pädagogen findet das pädagogische Konzept seinen Ausdruck: sollen kooperatives Lernen, eine schnelle Umgestaltung und verschiedene Sozialformen möglich sein – oder soll die Sitzordnung vor allem nach vorne orientiert und möglichst konstant sein?

Verallgemeinerbar ist, dass die Klassenleitung gerade in diesem Feld eine gute Balance zwischen Initiative, Konzept und Beteiligung finden muss. Was eine gute Lernumgebung für erfolgreiches Lernen ist, das muss sowohl von den Schüler(inne)n als auch von den in der Klasse unterrichtenden Lehrkräften mitgetragen werden.

Frank Märtens beschreibt, wie er diesen Balanceakt mit Hilfe von Kriterien, Beteiligung und Verantwortungsübernahme durch die Schüler(innen) initiiert und strukturiert hat.

Arbeit mit Eltern gestalten

Gelingt die Arbeit mit Eltern, kann dies für die Klassenleitung entlastend sein. Misslingt sie, kann dies zu schweren Belastungen führen. Wie die Arbeit mit Eltern gelingen kann beschreiben Vivienne al Dahouk und Marc Böhmann; wie es sich auswirken kann, wenn die Verständigung nicht gelingen will, das beschreibt Karin Heymann.

Verallgemeinerbar ist, dass die Arbeit mit den Eltern nicht konfliktfrei sein kann. Sie ist strukturell geprägt von Machtunterschieden, Kompetenzkonflikten, wechselseitigen Ängsten und Unterschieden in der Perspektive. Generell gilt: Der Lehrer hat vor allem das Gemeinsame, die Klasse und die Schule im Blick, die Eltern das eigene Kind. Anforderungen in diesem Feld sind: Interesse am Elternhaus, eine klare Sprache innerhalb eines gut geregelten Vertragsverhältnisses, Fähigkeiten als Gastgeber und tonangebender Moderator, eine gute Mischung aus Professionalität und Authentiziät, Gesprächs- und Beratungsfähigkeit sowie Konfliktfähigkeit. Die Praxis zu diesen Anforderungen beschreiben Dahouk/Böhmann.

Kooperation gestalten

Auch wenn sich die folgenden Beiträge an vorwiegend einzeln agierende Klassenleitungen richten, so haben die bisher skizzierten Anforderungen gezeigt, wie wichtig und meist unumgänglich Absprachen und Kooperation sind. Alles, was eine Klassenleitung initiiert – von der Beziehungsarbeit über die Arbeit mit der Lerngruppe bis hin zur Gestaltung von Raum und Lernumgebung – hat weitreichende Auswirkungen und muss deshalb von Schüler(inne)n und den beteiligten Lehrkräften mitgetragen und manchmal auch mitgestaltet werden. Verallgemeinerbar ist deshalb, dass Partizipation und Kooperation zentrale Anforderungen an die Arbeit als Klassenlehrer sind.

Wer Anregungen zu einem Konzept sucht, das explizit auf Kooperation und gemeinsame Verantwortung im Umgang mit der Klasse setzt, findet diese in PÄDAGOGIK H. 2/2009 unter dem Titel Classroom Management (vgl. auch Eikenbusch 2009).

Einen ersten und gleichzeitig übergreifenden Einstieg in die Intelligenz der Praxis bietet der folgende Beitrag mit sieben Tipps von Lydia Möbs.

Literatur

  • Eikenbusch, Gerhard (2009): Classroom Management – für Lehrer und für Schüler. In: PÄDAGOGIK H. 2/2009, S. 6 f.
  • Mayr, Johannes (2008): Forschungen zum Führungshandeln von Lehrkräften. In: Hofmann u. a. (Hg.): Qualitative und quantitative Aspekte. Zu ihrer Komplementarität in der erziehungswissenschaftlichen Forschung. Münster, S. 321 – 341
  • Mayr, Johannes (2009): Klassen stimmig führen. Ergebnisse der Forschung, Erfahrungen aus der Fortbildung und Anregungen für die Praxis. In: PÄDAGOGIK H. 2/2009, S. 34 – 37

Aus: Pädagogik 3/2012