Rechtsextremismus und Schule

»Normalfall« Rechtsextremismus?
Möglichkeiten und Schwierigkeiten, damit umzugehen

Ist der Rechtsextremismus in der Mitte der Gesellschaft angekommen? Was wäre dann überraschend daran, dass die rechtsextremistische Welle auch in die Schule schwappt?
Bislang wurde das »normale« Auftreten von Rechtsextremisten als ein Problem im Osten der Republik gesehen. Wie können wir mit diesem unheimlichen »Normalfall« in Schule umgehen? Was müssen wir dafür wissen? Was kann Lehrerinnen und Lehrern helfen?

Festzug mit SSIm letzten Jahr (2009) gab es viele Meldungen über rechtsextremistische Gewalttaten und über den Einzug rechtsextremer Parteien in kommunale parlamentarische Gremien oder in Landtage. In diesem letzten Jahr (2009) schrieb der Journalist Christian Schafmeister in der »Frankfurter Rundschau« (19.6.2009) über einen festlichen Umzug unter der Überschrift »SS marschiert mit – Historische Uniformen beim Festzug zum Sachsen-Anhalt-Tag«. Die Unterschrift einer farbigen Abbildung erläuterte: »Festzug mit SS (links vorn), Panzertruppe (rechts vorn), Wehrmacht …«. Die rechtsextremistische Szene nimmt gerne Bezug auf die NS-Zeit, auf das damalige Personal und dessen Ideologie. Da fällt die Zurschaustellung einer verbrecherischen Organisation in einem Festzug kaum noch auf. Was lernen die »neuen« und die »alten« Nazis daraus?

Ein exemplarisches Kapitel in diesem Zusammenhang sind die Benennungen von Straßen nach Nazigrößen, von Bundeswehrkasernen nach belasteten Militärführern oder die Ehrung von Kriegsverbrechern mit nach ihnen benannten Schulen. Man würde sich gerne wünschen, dass dies Probleme der jungen Bundesrepublik Anfang der 50er Jahre wären. Nein: Junge und alte Rechtsextreme finden Bestätigungen ihrer Ideologie auch noch in diesem Jahrtausend bei den Ehrungen. In Wiesbaden-Naurod ist der Dichter Rudolf Dietz, bekannt geworden durch NS-verherrlichende Gedichte, nach wie vor Namenspatron einer Grundschule. Auf Straßenschildern in Witzenhausen, Wuppertal, Bonn und Euskirchen fanden Studierende der Universität Bayreuth die Namen der Nazi-Schriftsteller Rudolf Herzog und Paul Coelestin-Ettighofer. Im November 2008 wurde ein Gymnasium im nord­rhein-westfälischen Kreuztal nach zähen Auseinandersetzungen vom Namen des Industriellen und verurteilten Kriegsverbrechers Friedrich Flick befreit. Diese Blütenlese könnte ergänzt werden mit Beispielen aus der ganzen Republik. Und noch einmal: Was lernen denn die »neuen« und die »alten« Nazis daraus?

Rechtsextremismus in der Mitte
Wie »integriert« ist also der Rechtsextremismus? Überdecken nicht Straftaten mit rechtsextremen Hintergründen, zumeist boulevardmäßig in der entsprechenden Presse in den Vordergrund geschoben, das eigentliche gesellschaftliche Problem: der Rechtsex­tremismus wandert langsam, aber sicher vom Rand in die Mitte der Gesellschaft. Damit wird auch der Begriff »Rechtsextremismus« obsolet: ein Phänomen, das in der Mitte angekommen ist, ist mit »extrem« falsch beschrieben.

Wie wird eigentlich der Rechtsex­tremismus erforscht? Als Beispiel sollen sehr verkürzt Untersuchungen im Auftrag der Friedrich Ebert Stiftung unter dem Titel »Vom Rand zur Mitte« und »Bewegung in der Mitte«, Untertitel »Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2008« angeführt werden.

In dieser Untersuchung werden Befragten Aussagen zur Zustimmung oder zur Ablehnung vorgelegt wie zum Beispiel: Ohne die Judenvernichtung würde man Hitler heute als großen Staatsmann ansehen. Oder: Wie in der Natur sollte sich in der Gesellschaft immer der Stärkere durchsetzen. Oder: Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen. Oder: Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß. Oder; Wenn Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die Ausländer wieder in ihre Heimat zurückschicken.

Insgesamt werden mit solchen Items sechs Dimensionen rechtsextremer Einstellungen untersucht wie: Chauvinismus (mehr Mut zu einem starken Nationalgefühl), Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus und andere.
Die Darstellung von ausgewählten Ergebnissen folgt den Ausführungen der Autoren Oliver Decker und Elmar Brähler. Sie wissen nach ihrer Untersuchung, dass rechtsextreme Einstellungen in allen gesellschaftlichen Gruppen in unterschiedlichem Ausmaß vorhanden sind. So gesehen führt der Begriff »Rechtsextremismus« in die Irre, weil er das Problem ausschließlich als ein Randphänomen beschreibt.

Rechtsextremismus ist heute vielfach, bezogen auf die Ebene der Einstellungen, ein politisches Problem in der Mitte der Gesellschaft.

Diese Einstellungen in allen gesellschaftlichen Gruppen zeigen an, dass der Blick vom Rand in die Mitte gelenkt werden muss. Bei den gesellschaftlichen Gruppen handelt es sich um Personen verschiedenen Alters und von unterschiedlichem Erwerbsstatus, Anhänger demokratischer Parteien, Gewerkschafts- und Kirchenmitglieder – also um alle.

Von den Dimensionen des Rechtsextremismus zeigten Ausländerfeindlichkeit und Chauvinismus die höchsten Zustimmungswerte. Es folgte der Antisemitismus als ein sehr bedeutsames Merkmal rechtsextremer Einstellung, das immerhin von fast jedem elften Deutschen geteilt wurde. In allen Teilgruppen der Gesellschaft finden sich also in unterschiedlichem Ausmaß rechtsextreme Einstellungen.

Demokratie lernen – aber wie?
Wir befinden uns offensichtlich in einer neuen Situation gegen die Schulen und andere Institutionen anzukämpfen versuchen. Erfolge dabei würde man sich wünschen. Aber die Ursachen dieser undemokratischen Einstellungen liegen tiefer, sie sind mit Bildungsarbeit, Gedenkstättenbesuchen mit Schülergruppen, Gedenkveranstaltungen und zeit- sowie lokalgeschichtlichen Publikationen allein nicht zu beheben – so wichtig und unverzichtbar diese Aktivitäten auch sind.

Bei den Befragten mit rechtsextremen Einstellungen – so die genannten Autoren, stellte sich die wirtschaftliche Verarmungserfahrung als ein wichtiger Faktor heraus, auch das Gefühl der Befragten, politisch einflusslos zu sein, sowie das Gefühl der Unfähigkeit, krisenhafte Lebenssituationen zu bewältigen. Damit deutet sich – so die Autoren der Studie – ein weiterer Befund an, »dass nämlich ein emotional kaltes und gewaltvolles Erziehungsklima von Probanden mit rechtsextremer Einstellung häufig berichtet wurde. Damit müssen auch psychosoziale Einflussgrößen als Ursachen rechtsextremer Einstellung angenommen werden«.

Die Autoren der Studie schlussfol­gern daraus: die »Bedeutung eines demokratischen Erziehungsklimas, die Anerkennung der kindlichen Bedürfnisse anstelle einer autoritären Dominanz elterlicher Interessen, ist von großer Bedeutung für die Herausbildung demokratischer Einstellungen«.

Was tun gegen offenen oder latenten Rechtsextremismus? Patentrezepte gibt es offensichtlich nicht. Die neuen Ansätze einer Demokratiepädagogik erscheinen chancenreich – auch wenn man unwillkürlich an das Bild von Sisyphus denken muss, der immer wieder denselben Stein den Berg hoch rollt.

Eine Überschrift in der Frankfurter Rundschau vom 5.11.2009: »Neonazis gehören zur Normalität« bestätigt die eben zitierte Untersuchung. In dem FR-Beitrag erklärte eine Kassler Soziologin und Politologin zu den rechtsextremistischen Attacken im hessischen Schwalm-Eder-Kreis (Kirsten Neumann): »Viele Leute, gerade in Vereinen oder Verbänden, sagen, dass sie zu wenig über die rechte Szene wissen … Die, die sich jetzt schon antifaschistisch engagieren, brauchen mehr Unterstützung. Dazu gehört auch, dass sich Menschen in Vorbildfunktionen wie Bürgermeister, Pfarrer oder Vereinsvorsitzende stärker gegen Rechts positionieren. Denn wenn die das tun, trauen sich auch andere.«

Rechtsextreme Einstellungen also in allen Teilgruppen der Gesellschaft. Man muss aber auch die Frage hinzunehmen, was ein hoher Anteil der Befragten wirklich denkt, wenn mit »teils – teils« geantwortet wird. Das Fazit daraus in der angeführten Studie: »Der Anteil der Bevölkerung, der sich eindeutig oder zumindest nicht klar gegen rechtsextreme Einstellungen positioniert, wird so erschreckend groß«.

Aus dieser Untersuchung sind viele Details zu entnehmen – dass zum Beispiel der Ost-West-Vergleich immer uninteressanter wird, dass auch der Antisemitismus, der früher in den westlichen Bundesländern ausgeprägter war, nun auch im Osten West-Niveau erreicht, dass Baden-Württemberg und Bayern in dieser Beziehung eine Vorreiterrolle spielen …

Wer kann helfen?
Alle diese Probleme, Fragen, Verwirrungen kommen ungefiltert in der Schule an. Ist Schule damit nicht notwendigerweise überfordert, führt sie nicht – wenn überhaupt – einen aussichtslosen Kampf?

Die Beiträge in diesem Themenheft stellen Projekte und Ansätze vor, mit denen der Rechtsextremismus in den Schulen, aber auch im außerschulischen Bereich bearbeitet werden kann. Dabei geht es um beispielhafte und erprobte Projekte, in die schon praktische Umsetzungserfahrungen eingefügt sind. Zum anderen werden bundesweite und länderbezogene Initiativen vorgestellt, die darauf eingestellt sind, Informationen zur Verfügung zu stellen. Links und Literaturangaben befinden sich bei den jeweiligen Beiträgen.

Den Anfang macht eine Situationsbeschreibung von Benno Hafeneger. Diese Bestandsaufnahme zeigt das Auftreten, das Erscheinungsbild, die Anziehungskraft der rechtsextremistischen Gruppen, gerade auch in ihrer nicht immer klar erkennbaren Organisationsform. Der Autor präsentiert am Schluss drei Befunde, die gerade auch handlungsrelevant für Lehrerinnen und Lehrer sind. Der Beitrag von Kurt Edler hat eine besondere Ausstrahlung: beim Lesen spürt man, wie dicht der Autor an den Schülern dran ist, mit denen ansonsten keine Diskussion mehr geführt wird. In diesem Beitrag steckt ein menschenfreundlicher Optimismus, der auch in dem noch so verstockten neonazistischen Schüler mehr sieht als nur die Dummheit seiner politischen Aussagen. Christa Kaletsch arbeitet im Frankfurter Anne-Frank-Zentrum mit Schülerinnen und Schülern. Sie versucht mit verschiedenen Projekten umzusetzen, was mit Demokratie lernen gemeint ist. Sie will dabei Lernarragements anbieten, die eine innere Beteiligung der Teilnehmenden erzeugen. Aus belehrten Schülerinnen und Schüler werden Forschende. Michael Hammerbacher benennt die Grenzen von Interventions- und Präventionsarbeit in der Schule. Reiner Becker warnt vor pädagogischen Illusionen und beschreibt die Grenzen von Interventions- und Präventionsarbeit. Sascha Wenzel und Marike Meinz stellen einen praktisch erprobten Ansatz vor, die Anerkennungskultur in der Schule zu stärken. Dazu dient das »Anerkennungsaudit«.

Literatur

  • Oliver Decker/Elmar Brähler (2008):  »Bewegung in der Mitte« – Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. Berlin
  • Oliver Decker/Elmar Brähler/Norman Geißler (2006): Vom Rand zur Mitte. Rechtsextreme Einstellungen und ihre Einflussfaktoren in Deutschland. Berlin 2006

Peter E. Kalb, Jg. 1942, war Verlagsleiter bei Beltz, ist Redaktionsmitglied der PÄDAGOGIK und arbeitet als Verlagsberater in Bensheim/Bergstraße.
Adresse: Wilhelmstraße 18, 64625 Bensheim/Bergstraße
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Aus: Pädagogik 2/2010