Schülerinnen und Schüler beteiligen

Demokratische Strukturen entwickeln und Beteiligung am Unterricht ermöglichen

Demokratie in Schulen ist gefordert, aber noch sind wir weit davon entfernt. Wie aber können wir diejenigen auf Augenhöhe beteiligen, für die wir Schule machen? Wann erleben Schülerinnen und Schüler ihre Beteiligung als folgenreiche Partizipation – und wann eher als pseudodemokratisches Mitbestimmungsritual? Die Einführung skizziert unterschiedliche Erfahrungen mit Beteiligung und setzt diese in Verbindung zueinander.

Es ist noch nicht lange her, dass Bernhard Buebs Buch »Lob der Disziplin« zum Bestseller in Deutschland wurde. Auf dem Hintergrund langjähriger Erfahrung im Umgang mit Jugendlichen kommt er zu der Einsicht, dass Kinder und Jugendliche sich gegenseitig nur beim Durchsetzen ihrer eigenen Interessen stärkten und diese gegenüber schulischen und gemeinschaftlichen Notwendigkeiten durchboxten, wenn man sie denn mitbestimmen ließe. Nach seinen Vorstellungen finden Heranwachsende zur Freiheit erst in Stufen allmählicher Einsicht und können nur durch erzwungene Disziplin zur notwendigen Selbstdisziplin und später zu erwachsener Selbstbestimmung gelangen (Bueb 2006). Dagegen haben Pädagogen wie John Dewey schon in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts, in seiner Folge andere wie Hartmut von Hentig und Wolfgang Edelstein (um nur die Nestoren zu nennen) einen grundlegend anderen Umgang mit Demokratie in der Schule theoretisch beschrieben und praktisch erprobt. Ihnen folgend wird man durch Leben in und Teilhabe an der demokratischen Gemeinschaft demokratiefähig. Demokratie in der Schule war, ist und bleibt wichtiges, längst nicht abgegoltenes Thema von Schule (vgl. die Sammelrezension neuerer Veröffentlichungen von Anna Moldenhauer in PÄDAGOGIK 9/2013, S. 50 – 52, aber auch Bohnsack 2003 u. a. zu ­Dewey, sowie die beiden Bände »Bildung in der Demokratie« der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft nach ihrem gleichnamigen Kongress 2010).

Noch bleibt viel zu tun, wenn in unseren Schulen das »Lob der Disziplin«, also Unterordnung, gegen Teilhabe jener abgebaut werden soll, für die die Schule Verantwortung trägt. Wie sieht es in unseren Schulen damit aus? Landauf, landab, so Kurt Edler in seinem Basisartikel Lust auf Verantwortung, klagen Schülervertreter und Schülertrainer darüber, wie sehr die bundesdeutsche Schülermitwirkung in einer Agonie liegt. Und das entgegen vollmundig formulierter Aufträge und Ansprüche an demokratieförderliches Tun in Schulen laut Schulgesetzen. Woran liegt es, dass politisch bewusste junge Menschen einen großen Graben zwischen dem erkennen, was ihnen im Schulgesetzt, an Mitwirkung zugestanden wird, und dem, was sie tatsächlich an ihrer Schule erleben und bewirken können? Von der Untertanen-Schule sind wir doch eigentlich weit entfernt, und dennoch erleben Schülerinnen und Schüler in der Praxis genau das: erwartete Anpassung, sublime Repressalien, verweigerte Mitbestimmung, pseudodemokratische Beteiligung.

Manuela Gamsjäger hat die Mitwirkung von Schülerinnen und Schülern in Schülervertretungen empirisch in einem Forschungsprojekt untersucht, das zwar in Österreich stattfand, aber übertragbar ist. Demokratie lernen durch Partizipation in der Schülervertretung? heißt ihre doppelbödige Frage. Partizipation haben die Forscherinnen und Forscher in ihrem Projekt dabei doppelt ernst genommen: Sie untersuchten nicht nur Partizipation in Schulen, sondern bezogen die Schülerinnen und Schüler selbst als Juniorforscherinnen und Juniorforscher in den gesamten Forschungsprozess mit ein. Die Ergebnisse sollten uns einerseits sehr zu denken geben, weisen aber andererseits auch Wege aus dem Dilemma auf, damit an der »Türschwelle« zum »kahlen Raum der Schülerpartizipation« nicht mehr »ratlos die Demokratinnen und Demokraten von morgen« stehen (Kurt Edler).

Auch dieses Heft nimmt wie die Forschungsgruppe den ansonsten weitgehend folgenlos formulierten Anspruch ernst: Schüler beteiligen! Insgesamt kommen mit eigenen Beiträgen sieben Schülerinnen und vier Schüler zu Wort. Paul Müller und Peter Schmidt beschreiben in ihrem Beitrag Von der Vertreter-Demokratie zum eigenen Handeln, warum sie sich nicht mehr »pseudodemokratisch« an der Gremienarbeit ihrer Schule beteiligen wollen und fordern ein Umdenken: nicht nur von den Erwachsenen, die sie als gefangen in ihren Strukturen sehen, sondern auch von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern, die ihre Rechte und Möglichkeiten weder erkennen, noch nutzen.

Michelle Julia Strach erlebt in einem Projekt, das innerschulisch bewusst und gezielt auf Partizipation angelegt ist, dass guter Wille allein nicht reicht. Die Zusammenarbeit mit außerschulischen Pädagoginnen und Pädagogen gelingt nicht selbstverständlich demokratisch – für die jungen Menschen vielleicht gerade dadurch eine besonders lehrreiche Erfahrung: Entschulung als Demokratieerfahrung. Auch hier waren es Erwachsene, die ihre durchaus gut begründeten Eigeninteressen undemokratisch gegen die der jungen Menschen durchgesetzt haben, denen sie »Demokratie« noch nicht zutrauten. Luis Pähler beschreibt in Gestörte Demokratieprozesse Auseinandersetzungen mit allwissend-wohlmeinenden Erwachsenen, die der SV zunächst nicht auf Augenhöhe begegnen, sondern ihre Interessen möglichst reibungslos mit pseudodemokratischer Beteiligung durchzusetzen versuchen. Sein Beitrag zeigt zugleich, dass Beharrlichkeit, Mut, Geduld und gut-bedachte Vorschläge der einen Seite letztlich erfolgreicher sind als undemokratische Durchsetzungsstrategien der anderen – wenn, ja wenn eine Schule auf gemeinsam getragenen demokratischen Grundüberzeugungen aufgebaut ist.

Bettina Brückmann und Hildegard Lippert fordern Schülerbeteiligung von Anfang an … und zeigen eine Schule, in der schon die Jüngsten eine wichtige Stimme haben, Schülerinnen und Schüler zunehmend in die Verantwortung für ihre Schule und die Entscheidungsprozesse in ihr einbezogen werden. Auch in ihrem Beitrag kommen die, um die es immer geht, selbst zu Wort. Andere Projekte, die über die Schule hinaus weisen, leben vom Engagement der Schülerinnen und Schüler. Meera Joelle Theeßen berichtet über Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage und macht anderen Mut, sich ähnliche Verantwortungsfelder zu suchen, in denen Grundüberzeugungen der Schule mit den Problemen der Gesellschaft um sie herum konfrontiert und kommuniziert werden.

Natürlich ist es wichtig, gemeinsam mit allen Beteiligten Schule zu entwickeln, an den Strukturen, Vereinbarungen, Grundüberzeugungen zu arbeiten, dabei alle – vor allem die Schülerinnen und Schüler – mitzunehmen, schließlich gefundene Wege in mühsamer Gremienarbeit fest- und ständig fortzupflastern. Schülerinnen und Schüler an der Schulentwicklungsarbeit repräsentativ zu beteiligen reicht aber nicht aus, will eine Schule wirklich demokratisch sein. Der Anspruch auf Beteiligung muss weitergehen. Schülerinnen und Schüler brauchen auch bei der Auswahl von Inhalten, bei den Aufgabenstellungen, der Gestaltung des Unterrichts und der Bewertung von Ergebnissen eine gewichtige Stimme. Noch sind die meisten Schulen davon weit entfernt, scheint ein solches Ansinnen angesichts der enormen Stofffülle, der ständigen Zeitnot, des immensen Druckes durch zu viele vergleichende Prüfungen fast schon absurd. Hier spätestens endet wirklich der »demokratische Sektor« (Paul Müller und Peter Schmidt).

Und doch haben sich Schulen aller Bundesländer auf den Weg gemacht. Schülerinnen und Schüler berichten, wo sie demokratische Beteiligung in ihren Bildungsprozessen erlebten und was es ihnen bedeutet. Theresa Blome berichtet über Mitbestimmen im Unterricht, Luis Schierbaum über Das eigene Jahresthema wählen. Dabei geht es um das »Kerngeschäft« von Schule, um Unterricht, an dessen Gestaltung sie beteiligt werden. Die Evangelische Schule Berlin gewährt ihren Schülerinnen und Schülern besonders viel Raum für Beteiligung am Unterricht, nimmt sie ernst, indem sie ihnen die Verantwortung für ihr eigenes Lernen überträgt: Jeden Donnerstag wieder! Lara-Luna Ehrenschneider, Jamila Tressel und Alma de Zárate beschreiben die Projektarbeit in ihrer Schule und die Wirkung, die diese selbstbestimmte und selbstverantwortete Arbeit auf sie hat. Sie sind beteiligt an Themenfindung und Planung, Durchführung und Ergebnispräsentation, erleben die Erwachsenen als unterstützende, ermutigende Begleiter und kommen zu dem stolzen Ergebnis: »Da kann man mal so richtig sehen, was so alles entstehen kann, wenn Kinder sich für etwas begeistern!« Könnte also eine mutige und deutlich weiter reichende Beteiligung von Schülerinnen und Schülern uns allen einen Ausweg zeigen aus den allzu oft öden, wenig motivierenden, lustlosen bis krankmachenden Alltagen von Unterricht und ihren nur mäßigen Leistungsergebnissen?

Offenbar ist es sowohl lern- als auch zugleich demokratieförderlich, Schülerinnen und Schüler deutlich mehr als bisher am »Kerngeschäft« von Schule zu beteiligen. Konsequenterweise muss dann auch die Bewertung von Unterrichtsergebnissen einbezogen werden. Ohne Beteiligung, Anerkennung und Verantwortung bei der Bewertung, so Silvia-Iris Beutel und Wolfgang Beutel, bleiben Lernförderung und Demokratieerfahrung unter ihren Möglichkeiten. Wie Kinder und Jugendliche an der Aus- und Bewertung ihrer Leistungen beteiligt werden können, welche Wege verschiedene Schulen dabei gegangen sind und welche Erfahrungen sie damit gemacht haben, wurde von Silvia-Iris Beutel und Wolfgang Beutel erforscht und zusammengefasst als: Demokratie erfahren in Lernbegleitung und Leistungsbeurteilung. Aus Sicht der Schülerin Luna Salome Herné im Rückblick auf ihre Schulzeit gelingt Beteiligung durch Reflektieren besonders eindrücklich.

Schülerinnen und Schüler haben es in Schulen, die den Anspruch an demokratische Teilhabe ernst nehmen, deutlich schwerer als jene in Schulen, in denen sie ›gehorchen‹ oder gegebenenfalls möglichst unentdeckt eben nicht gehorchen. Ihnen wird zugetraut, auch zugemutet und abverlangt, mitzugestalten, mitzuentscheiden, mitzuverantworten, schließlich für die Folgen einzustehen. Das ist alles andere als leicht und kostet zudem Zeit, die Schulen gerne für »Wichtigeres« administrieren. »Wissen« über Demokratie reicht nicht, man muss sie sowohl in ihren Schwierigkeiten als auch Segnungen selbst erleben dürfen: Durch Partizipation an Entscheidungsprozessen, durch erfahrene Solidarität mit Schwächeren, durch Einsicht in notwendige Regeln, durch Suche nach Konsens statt flüchtigen Mehrheiten, durch die Bereitschaft, eigene Interessen gegebenenfalls zurückzustellen, durch Übernahme von Verantwortung. Das alles bleiben gut gemeinte Forderungen, wenn es uns nicht gelingt, Schülerinnen und Schüler wirklich ernst zu nehmen in ihren Ansprüchen an uns, wir sie nicht frei-setzen und unserer ständigen Kontrolle entziehen, damit sie eigene Entscheidungen überhaupt finden können, wenn wir ihnen also Beteiligung gar nicht erst zutrauen, sondern sie mit pseudodemokratischen Mitbestimmungsritualen abzuspeisen versuchen, wenn wir nicht loslassen und Macht abgeben können. Die Beiträge der Schülerinnen und Schüler in diesem Heft zeigen uns, dass wir ihnen vertrauen, ihnen mehr zutrauen und auch zumuten können, sie längst über die notwendigen ­Reflexionsfähigkeiten, Struktureinsichten und demokratischen Kompetenzen verfügen, um echte Partnerinnen und Partner in ihrer ureigensten Sache werden zu können. Besser als mit Lara-Luna, Jamila und Alma kann man diese Einführung nicht abschließen: »Wir glauben, das ist es, was geändert werden muss, man sollte den Schülern einfach mehr zutrauen.« Dem ist doch kaum noch etwas hinzuzufügen!

Literatur

  • Bohnsack, Fritz (2003): Demokratie als erfülltes Leben. Bad Heilbrunn
  • Bueb, Bernhard (2006): Lob der Disziplin. Eine Streitschrift. Berlin
  • Aufenanger, Stefan/Hambur­ger, Franz/Tippelt, Rudolf (Hg.) (2010): BILDUNG in der Demokratie. Opladen
  • Ludwig, Luise/Luckas, Helga/Ham­bur­ger, Frank/Aufenanger, Stefan (Hg.) (2011): BILDUNG in der Demokratie II. Tendenzen – Diskurse – Praktiken. Opladen
  • Thurn, Susanne (2012): Vertrauen. Über die Voraussetzung für pädagogisch förderliches Handeln, gelingendes Lernen und erfolgreiche Schulentwicklung. In: Hermann, Ulrich/Schlüter, Steffen (Hg.): Reformpädagogik – eine kritisch-konstruktive Vergegenwärtigung. Bad Heilbrunn

Dr. Susanne Thurn war Lehrerin, Hochschullehrerin, Schulleiterin der Laborschule Bielefeld, arbeitet jetzt in der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften und ist Mitglied der Redaktion von PÄDAGOGIK.
Adresse: Voltmannstr. 123e, 33619 Bielefeld
E-Mail: susanne.thurn(at)uni-bielefeld.de


Aus: Pädagogik 11/2014