Schule als Erfahrungsraum

Schule als Erfahrungsraum
Der Intelligenz der pädagogischen Praxis auf der Spur

Lernen in der Schule soll immer auch ein Lernen sein, das die Schlüsselprobleme der Zukunft berührt. Wenn Schule als Erfahrungsraum gestaltet wird, kann dies gelingen. Wie aber sehen solche Häuser des Lernens aus? Welche Schlüsselprobleme werden dort bearbeitet? Welche Erfahrungen mit Energie sind dort möglich? Wie sind solche Schulen mit ihrem Umfeld verbunden? Die Einführung wirft diese und andere Fragen auf; die Erfahrungsberichte zeigen Möglichkeiten ihrer Bearbeitung.

»Hätten Sie gedacht, dass Schulen wahre Energieschleudern sind? Eine Studie der Deutschen Energie-Agentur bestätigt das. Demnach verbrauchen Schulen im Durchschnitt bis zu 70 Prozent mehr Energie als andere kommunale Gebäude. Sie sind damit die größten öffentlichen Ener­gieverbraucher, noch vor den Krankenhäusern und der Straßenbeleuchtung. Einige Schulen haben das Problem erkannt und versuchen darauf zu achten, weniger Ener­gie zu verbrauchen.« (1)

»Ein kümmerliches Ergebnis« nennt Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber die Resultate des Kopenhagener Klimagipfels im tagesschau-Chat. Seine Bilanz fällt dementsprechend drastisch aus: Er glaube nicht mehr an einen Klimaschutz im Rahmen der UN. Jetzt sei jeder Einzelne gefordert.(2)

Was Schulen tun können

Was Schulen damit zu tun haben, liegt auf der Hand: Zwar können sie nicht die Probleme der Gesellschaft lösen, auch wenn bei öffentlicher Ratlosigkeit immer wieder gerne auf sie verwiesen wird. Aber andererseits ist klar, dass sie als zentrale Sozialisationsinstanz einen erheblichen Einfluss darauf haben, wie viel ökologische und politische Vernunft sich im Alltagshandeln der Zivilgesellschaft auf Dauer durchsetzt. Sie erreichen als Institution eine große Anzahl Einzelner, auf die es nach Schellnhuber jetzt vor allem ankommt.

Viele Schulen verstehen sich inzwischen als Häuser des Lernens, Bildungshäuser, als Polis, als Community Schools oder Zukunftswerkstätten, die sich der Verantwortung stellen, in ihrem vergleichsweise überschaubaren Rahmen aktiv nach Lösungen für Schlüsselprobleme der Zukunft zu suchen und das Gefundene vor Ort praktisch zu erproben. Das gilt vor allem für Partizipation in Unterricht und Schulleben und für den Umgang mit unseren natürlichen Lebensgrundlagen.

Bei beiden Schlüsselproblemen geht es neben Wissen um Sensibilisierung, Verhaltensänderung, Entwicklung neuer Gewohnheiten, Prüfung und gegebenenfalls Veränderung von Ritualen, Installierung oder Neujustierung von »Selbstverständlichkeiten«. Also vor allem um Haltungen, genauer: um eine aufgeklärte Haltung, die weiß, was sie tut und daraus ihre Zuversicht und Erfolgserwartung schöpft. Der schon fast vergessene Ernst Bloch hat diese Haltung »docta spes« genannt, was etwas frei übersetzt »intelligente Hoffnung« heißt. Die aber ist die Grundvoraussetzung aller Pädagogik.

Alltags- und Fachkompetenzen ergänzen einander

Alltagskompetenzen – lifeskills – und Fachkompetenzen – academic skills – müssen sich dabei keineswegs widersprechen, sie können und sollten sich im Gegenteil auf intelligente Weise ergänzen. Die Ergebnisse der Hirn- und Lernforschung zeigen ja immer deutlicher, in wie hohem Maß Gegenüberstellungen wie »harte« Fächer versus »Kuschelpädagogik« nicht nur obsolet, sondern lernfeindlich sind.

Manche der Reaktionen auf PISA waren und sind in diesem Sinne nicht intelligent: Sie versuchten und versuchen die erkannten Probleme mit der gleichen Denkweise zu lösen, durch die sie entstanden sind, was nach Albert Einstein unmöglich ist. Die Konzentration auf Lernmethoden und die sogenannten Kernfächer Mathematik, Deutsch und Englisch hat die notwendige Verbindung von life und academic skills häufig zu wenig im Blick. Davon aber hängt entscheidend ab, als wie sinnvoll das Lernen in der Schule empfunden wird. Und persönlich empfundener Sinn hat immer auch mit den eigenen Fragen und zukunftsfähigen Handlungsmöglichkeiten der Heranwachsenden und Erwachsenen zu tun, die sich in der Schule in der Rolle von Schülern und Lehrern begegnen.(3)

Der Raum als »Dritter Pädagogoge«

Dazu kommt als »Dritter Pädagoge« neben den Erwachsenen und den anderen Kindern und Jugendlichen die Schularchitektur, die Gestaltung der Gebäude, Räume und Flächen als Lebensort und Erfahrungsraum:
»Der Raum wurde bisher in seiner Bedeutung für die Bildung unterschätzt. Er ist der »dritte Pädagoge«, neben den Erwachsenen und den anderen Kindern und Jugendlichen …

Der Umbau der Schulen und anderer Bildungshäuser zu Lernlandschaften ist angesichts der Krise noch dringender geworden. Wie die Finanzwirtschaft, die auf Bluff gesetzt hat, verführen manche Schulrituale dazu, Wissen vorzutäuschen: Es wird dann nur für die Prüfung gelernt und schnell wieder vergessen. Nachhaltiges Lernen braucht Räume, die dazu einladen, hellwach und ganz gegenwärtig zu sein. An solchen Orten der Intelligenz entstehen der Eigensinn von Individuen und »amor mundi«, die Liebe zur Welt. Lernen, wie es Pisa-Studien messen, lässt sich dann gar nicht mehr vermeiden.«(4)

Anliegen und Hypothese

Was ist vor diesem Hintergrund das zentrale Anliegen der vorliegenden Ausgabe von PÄDAGOGIK?

Wir gehen von einer begründeten Hypothese aus. Sie lautet:
Die dauerhafte Lösung der großen Schlüsselprobleme, deren Komplexität uns oft zu überfordern scheint, beginnt auch im Kleinen, z. B. in der einzelnen Schule.

Die Frage nach Handlungsmöglichkeiten im sozialen Nahraum führt oft zu intelligenten, pragmatischen (das heißt: machbaren und übertragbaren) Ideen. Das gilt für ökologische Probleme ebenso wie für die uralte Frage nach der richtigen Form des Zusammenlebens, die sich schon die alten Griechen bei ihrem Nachdenken über die Hausgemeinschaft (oikos) und die Stadt (polis) gestellt haben.

Die Beiträge zeigen die vielfältigen Antworten, die fünf »ganz normale« Schulen auf aktuelle Herausforderungen der Zivilgesellschaft für sich gefunden haben. Es handelt sich um eine Gesamtschule aus Rheinland-Pfalz, eine Gesamtschule aus Baden-Württemberg, zwei Hamburger Gymnasien und eine kleine Grundschule aus Schleswig-Holstein.

Wir haben nach Schulen gesucht, die wir oder Gewährsleute selbst kennen und die bundesweit noch nicht so bekannt sind. Wir hoffen, dass ihr Beispiel andere zum Vergleich herausfordert und im Alltag umsetzbare Anregungen bietet.

Der Intelligenz der pädagogischen Praxis auf der Spur

Bei dieser Suche nach der Intelligenz der pädagogischen Praxis interessierten uns ganz praktische Fragen:

  • Wie organisieren diese »Bildungshäuser« das gemeinsame Leben und Lernen?
  • Wie verknüpfen sie das formelle Lernen im Fachunterricht mit den vielen Formen des informellen Lernens in besonderen Situationen, Veranstaltungen, AGs und Projekten?
  • Wie gehen sie mit Wasser, Strom und Müll um, wie senken sie die Heizkosten?
  • Wie gestalten sie Gebäude, Räume und Flächen?
  • Wie kooperieren sie mit der Nachbarschaft im Stadtteil und in der Gemeinde bzw. Region?

Viele der dazu nötigen Kompetenzen sind »life skills«, wie sie eine Hausfrau oder ein Hausmann braucht, um die Wohnung oder das Haus in Ordnung zu halten.

Vor einiger Zeit ist eine Dissertation erschienen, die diesem Zusammenhang unter der Überschrift »Schule als Lebens- und Erfahrungsraum« ein ganzes Kapitel widmet. Ihr Titel lautet: »Kompetenzen zur Alltagsbewältigung im privaten Haushalt – ein Desiderat lebensnaher Allgemeinbildung«.(5) Dort lesen wir auf Seite 145:

»Eine Schule, die ›Lebens- und Erfahrungsraum‹ sein oder werden möchte, die einen Lebensort darstellen will, an dem man Lebens- und Lernerfahrung machen kann, muss auch Erfahrungen im Lebens- und Arbeitsbereich des privaten Haushalts ermöglichen können. Sich ernähren, sich kleiden/mit Textilien umgehen, wohnen/Wohnräume ge­stalten, Zusammenleben gestalten – das alles sind Bereiche des alltäglichen Lebens, Bereiche der Alltagsbewältigung, die aus einer derartig lebensnahen Konzeption von Schule kaum ausgeblendet werden können, …«

Wie Schule als Erfahrungsräumen gestaltet werden kann, das lässt sich an der Intelligenz der pädagogischen Praxis erkennen, denen man mit den folgenden Erfahrungsberichten auf die Spur kommen kann.

Anmerkungen

(1)    Gefunden im Web-TV der ARD (www.tagesschau.de) am 14.12.2009 im Zusammenhang des Klimagipfels von Kopenhagen.

(2)    Ebenda am 21.12.2009.

(3)    Vgl. das Schwerpunktthema »Lernen und Sinn« in: Hamburg macht Schule 4/09. Hamburg 2010.

(4)    Münsteraner Erklärung vom 22.3.2009. Download unter www.reinhardkahl.de/pdfs/muensteraner_erklaerung.pdf.

(5)    Claudia Angele (2008): Kompetenzen zur Alltagsbewältigung im privaten Haushalt – Ein Desiderat lebensnaher Allgemeinbildung. Internationale Hochschulschriften Bd. 512. Münster.

Wolfgang Steiner, Jg. 1947, arbeitet am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung, Hamburg (LI) und leitet dort den Arbeitsschwerpunkt Demokratiepädagogik und Projektdidaktik.
E-Mail: wolfgang.steiner(at)li-hamburg.de

Peter Daschner
, Jg. 1944, ist Landesschulrat und Direktor des Landesinstituts für Lehrerbildung und Schulentwicklung (LI) in Hamburg und Redaktionsmitglied von PÄDAGOGIK.
Adresse (beide): Felix-Dahn-Str. 3, 20357 Hamburg
E-Mail: peter.daschner(at)li-hamburg.de


Aus: Pädagogik 4/2010