Sexuelle Gewalt und Schule

Missbrauch vorbeugen – ein sicherer Ort für Kinder und Jugendliche sein

Die Idee dieses Heftes

Es waren die Massenmedien, die das Thema »Sexueller Missbrauch in Schulen« seit März dieses Jahres stark gemacht haben. Massenmediale Attraktivität ist in der Regel noch kein Grund, ein Thema in die Reihe von Schwerpunkten unserer Zeitschrift aufzunehmen.
Gleichwohl war der PÄDAGOGIK-Redaktion klar, dass diese Diskussion so schnell wie möglich fachlich und praxisbezogen aufgegriffen werden sollte – auch wenn ein solches Vorhaben für eine Fachzeitschrift mit langen Planungs- und Vorlaufzeiten nur schwer zu realisieren ist.

Wir haben die Bearbeitung dieses Themas vor allem deshalb als dringlich empfunden, weil die Erfahrun­gen von Opfern und die Verantwortung von Schule damit endlich die Aufmerksamkeit bekommen haben, die Schule für eine langfristige Präventionsarbeit braucht. Zu solcher Arbeit wollen wir mit diesem Heft anregen.

Bewegt hat uns auch, wie eine pädagogische Tradition auf die Anklagebank gesetzt wurde, die wir als Reformgedächtnis für bedeutsam halten: eine selbstkritische und aufgeklärte Reformpädagogik, in der engagierte Lehrerinnen und Lehrer ihre Schule immer wieder neu erfinden, in der pädagogische Arbeit im Spannungsfeld von Selbstverantwortung der Lernenden und Verantwortung der Lehrenden gestaltet wird, in der die pädagogische Beziehung von Lehrenden und Lernenden einen hohen Stellenwert hat. Diese Voraussetzungen für guten Unterricht halten wir für unverzichtbar.

Die Diskussionen in der Redaktion haben zu folgenden Überlegungen bei der Strukturierung und Bearbeitung dieses anspruchsvollen und emotional bewegenden Themenkomplexes geführt: Zunächst haben wir entschieden, zu diesem Komplex zwei getrennte Schwerpunkte zu gestalten:

  • Einen Schwerpunkt zu den kritischen Anfragen an Reformpädagogik, zu ihrer Bedeutung für die aktuelle Schul- und Unterrichtsentwicklung sowie zu einer theorie- und erfahrungsbezogenen – auch kontroversen – Diskussion der Fragen nach Nähe und Distanz. In diesem Kontext sollte das Problem des sexuellen Missbrauchs thematisiert werden, aber nicht im Zentrum stehen. Das Ergebnis haben wir in Heft 7-8/2010 vorgelegt.
  • Getrennt davon sollte es in Heft 9/2010 einen Schwerpunkt zum Thema »Sexuelle Gewalt und Schule« geben. Dieses Heft soll Möglichkeiten der Präventionsarbeit vorstellen, zeigen wie Schülerinnen und Schüler gestärkt werden können und wie vor diesem Hintergrund über Gewaltförmigkeit von Schule nachgedacht werden kann. Dass wir uns in diesem Zusammenhang für die Formulierung »Sexuelle Gewalt und Schule« entschieden haben, wird weiter unten erklärt.

Wir gehen bei der Diskussion dieses Themas von drei Annahmen aus:

  1. Wir vermuten, dass sich viele vom Thema »Missbrauch und Schule« bzw. »Sexuelle Gewalt« nicht betroffen fühlen. Dabei könnte auch die Überlegung eine Rolle spielen, dass dieses Thema nur dann von Schule aufgegriffen wird, wenn sie »damit« ein Problem hat. Eine erste Prämisse dieses Heftes ist deshalb, dass Lehrerinnen und Lehrer für die Idee gewonnen werden müssen, Missbrauchsprävention – ähnlich der Drogenprävention – als einen Teil der Präventionsaufgabe von Schule zu verstehen.
  2. Wir vermuten weiter, dass es in Folge der Präsenz des Themas in den Medien Anfragen von Schülern, Eltern oder Lehrern zum Bereich »Sexuelle Gewalt« geben wird. Dabei können Beobachtungen angesprochen wer­­den, Beschwerden über sexualisierte Sprache vorgebracht oder Fragen zu Präventionsmaßnamen gestellt werden. Eine erhöhte Sensibilität kann schließlich dazu führen, dass Anzeichen von Missbrauch erkannt werden oder dass eine Schülerin oder ein Schüler sich vertrauensvoll an eine Lehrperson wendet. Auf solche – manchmal recht unerwartet auftretenden – Anforderungen kann und soll dieses Heft vorbe­reiten.
  3. Wir gehen davon aus, dass Missbrauchsprävention an andere Elemente pädagogischer Arbeit anknüpfen kann. Bei präventiver Arbeit, ob bei Gewalt, Sucht oder Missbrauch, geht es immer auch um die Frage: Wie kann Widerständigkeit erreicht werden? Da­zu passt die Erkenntnis, dass etwa 80 Prozent der Präventionsarbeit themenunabhängig und nur 20 Prozent themenspezifisch sind. Im Übrigen gilt: Schulen, die nicht auf Folgsamkeit und Anpassung, sondern auf Eigenwilligkeit, Selbstständigkeit und Partizipation setzen, tragen schon dadurch dazu bei, dass Kinder ihre Interessen kennen- und durchsetzen lernen.

Sexueller Missbrauch oder Sexuelle Gewalt – die begriffliche Ebene

Nicht jeder der folgenden Beiträge klärt die dort verwendeten Begriffe. Deshalb hier einige Hinweise zum Stand der aktuellen Diskussion.

Nach Deegener (2009, S. 24) – einem Standardwerk zu diesem Thema – werden unter sexuellem Missbrauch von Kindern jene Handlungen verstanden, die an oder vor einem Kind entweder gegen seinen Willen vorgenommen werden oder der das Kind aufgrund seiner Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann. Die Täter nutzen dabei ihre Machtposition aus, um ihre eigenen Bedürfnisse auf Kosten der Kinder zu befriedigen.

Übereinstimmung besteht bei den meisten Experten auch darin, dass Kinder sexuellen Handlungen mit Erwachsenen nicht verantwortlich zustimmen können, da Kinder aufgrund ihrer psychosexuellen Entwicklung noch nicht beurteilen können, wer für sie der »richtige« Sexualpartner ist. Hinzu kommt, dass Kinder in der Regel in vielfältiger Weise von Erwachsenen abhängig sind und somit ein großes Beziehungs- und Machtgefälle besteht (vgl. ebd., S. 22).

Folgt man der UN-Kinderrechtskonvention von 1990, zu deren Einhaltung sich die Bundesrepublik Deutschland durch Unterzeichnung verpflichtet hat, so gilt es Kinder und Jugendliche vor allen Formen sexuellen Missbrauchs zu schützen; dabei gelten Kinder als Menschen, die das 18. Lebensjahr noch nicht abgeschlossen haben.

Keine Einigkeit besteht in der Begrifflichkeit, mit der über dieses Thema gesprochen wird. Kritiker des Begriffs »Missbrauch« wenden ein, dass es in Erziehungsverhältnissen mit Minderjährigen keinen vernünftigen Gebrauch von Sexualität gibt, wie der Begriff Missbrauch unterstellen könnte. Deshalb wird der Begriff Sexuelle – bzw. Sexualisierte Gewalt verwendet.Die Verwendung des Begriffs »Sexualisierte Gewalt« will darauf verweisen, dass es hier nicht um eine Form von Sexualität geht, sondern um eine Instrumentalisierung sexueller Handlungen für die Ausübung von Gewalt und Macht. Sexuelle – bzw. sexualisierte Gewalt hat viele Gesichter: Sie kann verbaler und körperlicher Art sein oder beides. Sie beginnt bei sexualisierter Sprache und aufdringlichen Blicken und geht bis zu sexueller Nötigung und Vergewaltigung. Gemeinsamer Aspekt dieser Varianten ist, dass alle Handlungen gegen den Willen der Betroffenen ausgeführt werden.

In diesem Heft verwenden die Autorinnen und Autoren unterschiedliche Begriffe.

Was kann Schule in Kooperation mit anderen tun – die Handlungs- und Erfahrungsebene

Die Beiträge im Schwerpunkt beziehen sich vor allem auf unterschiedliche Erfahrungen mit Prävention.

Erfahrungen zeigen, dass angemessene Reaktionen Einzelner leichter umgesetzt werden können, wenn es einen Kontext gibt, in dem sexuelle Gewalt wahrgenommen und nicht geduldet wird.

Wir haben deshalb an verschiedenen Schulen und bei unterschiedlichen Expertinnen nachgefragt, was eine Schule tun kann, um einen solchen für Schüler und Lehrer hilfreichen Kontext von Wissen, Aufmerksamkeit und Vertrauen langfristig aufzubauen? In den meisten Fällen gibt es – wie auch bei anderen Varianten von Präventionsarbeit – eine Ko­ope­ration mit Beratungseinrichtungen. In einem besonderen Fall wird die Erfahrung eines Netzwerks vorgestellt, in dem Schulen mitarbeiten. Außerdem bekommen Schulen und Lehrer(innen) einen konkreten Eindruck davon, was Fortbildungsarbeit leisten kann, um professionelles Handeln anzubahnen.

Neben ausführlichen Erfahrungsberichten werden in zwei kurzen Einzelbeiträgen Praxishilfen zu den folgenden Fragen gegeben:

  • Was sollten Lehrer(innen) wissen und können, wie können sie mit Betroffenheit und Unsicherheit umgehen, was gibt es bei der Planung von Projekten zu bedenken, was können Schulen allein leisten und wann sind Kooperationspartner not­wendig?
  • Was kann und muss in aktuellen Fällen von sexueller Gewalt – beispielsweise von Schülern an Schülern – getan werden, was sind Sofortmaßnahmen, was pädagogische Maßnahmen und was kann zur Reintegration in die Schule getan werden?

Drei Hintergrundbeiträge skizzieren abschließend den Rahmen für das, was konkret an Schule getan werden kann.

  • Ein Beitrag zum Missbrauch in Regelschulen der 60er und 70er Jahre; hier erinnert Lutz van Dijk in biographischen Notizen an einen blinden Fleck und auch an die Schulzeit vieler, die heute in Schule arbeiten.
  • Ein Beitrag zum Stand der Erkenntnisse zu Strategien und Handlungshintergünden von Tätern; hier geben Experten aus der Täterforschung Einblick in Zusammenhänge, die Pädagog(inn)en für Präventionsarbeit und Intervention kennen sollten.
  • Ein Beitrag zum Missbrauch bzw. zur Gewalt von Lehrenden heute; dabei zeigt Gerhard Eikenbusch wie im Schulalltag heute Vertrauen und Beziehung missbraucht werden oder der Wille des Mächtigen missbräuchlich durchgesetzt werden kann.

Ein Fazit dieses Schwerpunkts könnte sein: Erst wenn alle Verantwortung übernehmen, hinschauen und konsequent im Team handeln, können Schulen zu einem sicheren Ort für Kinder und Jugendliche werden.

Literatur

Dr. Johannes Bastian, Jg. 1948, ist Professor für Schulpädagogik an der Universität Hamburg und Redaktionsmitglied von PÄDAGOGIK.
Adresse: Rothenbaumchaussee 11, 20148 Hamburg
E-Mail: bastian[at]uni-hamburg.de

Dr. Gerhard Eikenbusch
, Jg. 1952, ist Redaktionsmitglied von PÄDAGOGIK und Leiter der Deutschen Schule Stockholm.
Adresse: Karlavägen 25, 11431 Stockholm, Schweden
E-Mail: mail[at]eikenbusch.info


Aus: Pädagogik 9/2010