Missbrauch vorbeugen – ein sicherer Ort für Kinder und Jugendliche sein
Die Idee dieses Heftes
Es waren die Massenmedien, die das Thema »Sexueller Missbrauch in Schulen« seit März dieses Jahres stark gemacht haben. Massenmediale Attraktivität ist in der Regel noch kein Grund, ein Thema in die Reihe von Schwerpunkten unserer Zeitschrift aufzunehmen.
Gleichwohl war der PÄDAGOGIK-Redaktion klar, dass diese Diskussion so schnell wie möglich fachlich und praxisbezogen aufgegriffen werden sollte – auch wenn ein solches Vorhaben für eine Fachzeitschrift mit langen Planungs- und Vorlaufzeiten nur schwer zu realisieren ist.
Wir haben die Bearbeitung dieses Themas vor allem deshalb als dringlich empfunden, weil die Erfahrungen von Opfern und die Verantwortung von Schule damit endlich die Aufmerksamkeit bekommen haben, die Schule für eine langfristige Präventionsarbeit braucht. Zu solcher Arbeit wollen wir mit diesem Heft anregen.
Bewegt hat uns auch, wie eine pädagogische Tradition auf die Anklagebank gesetzt wurde, die wir als Reformgedächtnis für bedeutsam halten: eine selbstkritische und aufgeklärte Reformpädagogik, in der engagierte Lehrerinnen und Lehrer ihre Schule immer wieder neu erfinden, in der pädagogische Arbeit im Spannungsfeld von Selbstverantwortung der Lernenden und Verantwortung der Lehrenden gestaltet wird, in der die pädagogische Beziehung von Lehrenden und Lernenden einen hohen Stellenwert hat. Diese Voraussetzungen für guten Unterricht halten wir für unverzichtbar.
Die Diskussionen in der Redaktion haben zu folgenden Überlegungen bei der Strukturierung und Bearbeitung dieses anspruchsvollen und emotional bewegenden Themenkomplexes geführt: Zunächst haben wir entschieden, zu diesem Komplex zwei getrennte Schwerpunkte zu gestalten:
Wir gehen bei der Diskussion dieses Themas von drei Annahmen aus:
Sexueller Missbrauch oder Sexuelle Gewalt – die begriffliche Ebene
Nicht jeder der folgenden Beiträge klärt die dort verwendeten Begriffe. Deshalb hier einige Hinweise zum Stand der aktuellen Diskussion.
Nach Deegener (2009, S. 24) – einem Standardwerk zu diesem Thema – werden unter sexuellem Missbrauch von Kindern jene Handlungen verstanden, die an oder vor einem Kind entweder gegen seinen Willen vorgenommen werden oder der das Kind aufgrund seiner Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann. Die Täter nutzen dabei ihre Machtposition aus, um ihre eigenen Bedürfnisse auf Kosten der Kinder zu befriedigen.
Übereinstimmung besteht bei den meisten Experten auch darin, dass Kinder sexuellen Handlungen mit Erwachsenen nicht verantwortlich zustimmen können, da Kinder aufgrund ihrer psychosexuellen Entwicklung noch nicht beurteilen können, wer für sie der »richtige« Sexualpartner ist. Hinzu kommt, dass Kinder in der Regel in vielfältiger Weise von Erwachsenen abhängig sind und somit ein großes Beziehungs- und Machtgefälle besteht (vgl. ebd., S. 22).
Folgt man der UN-Kinderrechtskonvention von 1990, zu deren Einhaltung sich die Bundesrepublik Deutschland durch Unterzeichnung verpflichtet hat, so gilt es Kinder und Jugendliche vor allen Formen sexuellen Missbrauchs zu schützen; dabei gelten Kinder als Menschen, die das 18. Lebensjahr noch nicht abgeschlossen haben.
Keine Einigkeit besteht in der Begrifflichkeit, mit der über dieses Thema gesprochen wird. Kritiker des Begriffs »Missbrauch« wenden ein, dass es in Erziehungsverhältnissen mit Minderjährigen keinen vernünftigen Gebrauch von Sexualität gibt, wie der Begriff Missbrauch unterstellen könnte. Deshalb wird der Begriff Sexuelle – bzw. Sexualisierte Gewalt verwendet.Die Verwendung des Begriffs »Sexualisierte Gewalt« will darauf verweisen, dass es hier nicht um eine Form von Sexualität geht, sondern um eine Instrumentalisierung sexueller Handlungen für die Ausübung von Gewalt und Macht. Sexuelle – bzw. sexualisierte Gewalt hat viele Gesichter: Sie kann verbaler und körperlicher Art sein oder beides. Sie beginnt bei sexualisierter Sprache und aufdringlichen Blicken und geht bis zu sexueller Nötigung und Vergewaltigung. Gemeinsamer Aspekt dieser Varianten ist, dass alle Handlungen gegen den Willen der Betroffenen ausgeführt werden.
In diesem Heft verwenden die Autorinnen und Autoren unterschiedliche Begriffe.
Was kann Schule in Kooperation mit anderen tun – die Handlungs- und Erfahrungsebene
Die Beiträge im Schwerpunkt beziehen sich vor allem auf unterschiedliche Erfahrungen mit Prävention.
Erfahrungen zeigen, dass angemessene Reaktionen Einzelner leichter umgesetzt werden können, wenn es einen Kontext gibt, in dem sexuelle Gewalt wahrgenommen und nicht geduldet wird.
Wir haben deshalb an verschiedenen Schulen und bei unterschiedlichen Expertinnen nachgefragt, was eine Schule tun kann, um einen solchen für Schüler und Lehrer hilfreichen Kontext von Wissen, Aufmerksamkeit und Vertrauen langfristig aufzubauen? In den meisten Fällen gibt es – wie auch bei anderen Varianten von Präventionsarbeit – eine Kooperation mit Beratungseinrichtungen. In einem besonderen Fall wird die Erfahrung eines Netzwerks vorgestellt, in dem Schulen mitarbeiten. Außerdem bekommen Schulen und Lehrer(innen) einen konkreten Eindruck davon, was Fortbildungsarbeit leisten kann, um professionelles Handeln anzubahnen.
Neben ausführlichen Erfahrungsberichten werden in zwei kurzen Einzelbeiträgen Praxishilfen zu den folgenden Fragen gegeben:
Drei Hintergrundbeiträge skizzieren abschließend den Rahmen für das, was konkret an Schule getan werden kann.
Ein Fazit dieses Schwerpunkts könnte sein: Erst wenn alle Verantwortung übernehmen, hinschauen und konsequent im Team handeln, können Schulen zu einem sicheren Ort für Kinder und Jugendliche werden.
Literatur
Dr. Johannes Bastian, Jg. 1948, ist Professor für Schulpädagogik an der Universität Hamburg und Redaktionsmitglied von PÄDAGOGIK.
Adresse: Rothenbaumchaussee 11, 20148 Hamburg
E-Mail: bastian[at]uni-hamburg.de
Dr. Gerhard Eikenbusch, Jg. 1952, ist Redaktionsmitglied von PÄDAGOGIK und Leiter der Deutschen Schule Stockholm.
Adresse: Karlavägen 25, 11431 Stockholm, Schweden
E-Mail: mail[at]eikenbusch.info
Aus: Pädagogik 9/2010