Zur Sprache bringen

Sprachkompetenz fördern heißt anders unterrichten

Traditionelle Sprachdidaktik ist darauf gerichtet, »die« Wirklichkeit sprachlich angemessen zu erfassen. Was aber, wenn »die« Wirklichkeit erst von der Sprache erzeugt wird, Menschen also im Maß ihrer Sprachverschiedenheit buchstäblich in verschiedenen Welten leben? Es scheint, als sei diese Erkenntnis in unseren Schulen noch nicht wirklich angekommen. Die Förderung von Sprachkompetenz wird zur drängenden didaktischen Herausforderung in allen Fächern und Schularten.

Der Wald, Ägypten und die Konjunktionen

Neugierig und staunend sieht Hakan sich während einer Fahrt durch den Wald um. »So viele Bäume!« Er lebt noch nicht lange in Deutschland, seine Familie ist aus dem Irak geflüchtet, und offenbar war er noch nie in einem Wald, hat darum auch keinen Begriff dafür.

In seiner Klasse läuft gerade eine Unterrichtseinheit »Ägypten«. Die Kinder sollen einen Text lesen, in dem es um Einbalsamierung geht. Der Begriff wurde erklärt, trotzdem kommen sie mit dem Text nicht klar. Statt »Leichnam« lesen sie »Leichmann«. Das Wort »Jenseits« ist ihnen unbekannt. Worum es also bei dem ägyptischen Totenkult geht, bleibt ihnen völlig unverständlich.

Auch erfahrene Lehrkräfte schätzen die Verstehensmöglichkeiten von Kindern mit Sprachdefiziten oft falsch ein. Eine Aufgabe wie »Verdopple die Zahl« wird zur Falle, wenn ein Kind das Wort »verdoppeln« nicht kennt. Grammatische Unterscheidungen, etwa beim Gebrauch von Konjunktionen, sind für viele Jugendliche ein Buch mit sieben Siegeln. Sie können Zeitverhältnisse nicht mit »bevor« oder »nachdem« ausdrücken und logische Verknüpfungen nur unzureichend benennen, weil ihnen Konjunktionen wie »obwohl« oder »so dass« nicht vertraut sind. Erst recht gilt das für Ausdrücke wie »Ursache dafür ist …« oder »Daraus folgt, dass …«.

Was folgt daraus für unsere Schulen?

Unter dem Suchbegriff »Sprachkompetenz« informiert der Deutsche Bildungsserver:

Die Begriffe sind Knotenpunkte, aus denen ein riesiges Netz an Bedeutung entstehen kann. Daher kann man sagen: Wer keinen Begriff einer Sache, Handlung oder eines Zusammenhangs hat, für den existiert das Phänomen nicht. In anderen Worten: Alles, was wir nicht mit Sprache auszudrücken vermögen, entzieht sich unserer Erkenntnis. (www.bildungsserver.de)

Diese Erkenntnis ist so wenig neu wie die von der sozialen Spreizung, das heißt von der Abhängigkeit schulischer Leistungen vom sozialen Hintergrund. Das zeigt beispielhaft ein ebenso einfacher wie erstaunlicher Befund. In der von Lehmann und anderen in Hamburg durchgeführten LAU-Studie wurde herausgearbeitet, dass der deutlichste Korrelationsfaktor zwischen Schulleistungen und sozialem Kontext die Zahl der Bücher ist, die ein Kind zu Hause vorfindet (Lehmann et al. 1998). Die real existierende Chancenungleichheit in unserem Land hat also nicht nur viel, sondern alles mit der Entwicklung von Sprachkompetenz zu tun. Die von PISA ermittelte »Risikogruppe« derjenigen Jugendlichen, deren Lesekompetenz nicht ausreicht zu einer aktiven Teilhabe an unserer Kultur, ist hinsichtlich ihrer Lebens- und Berufschancen erheblich benachteiligt gegenüber der Gruppe der Spitzenleser.

Jugendliche wie Hakan werden einfache Wörter wie »Wald« schnell lernen können. Aber sie können unmöglich das Weltwissen »aufholen«, das andere Gleichaltrige erworben haben, weil ihr Weltwissen und damit ihre Welt anders aussehen. Für viele bedeutet es eine enorme Lernleistung, in zwei Kulturen zu Hause zu sein und zwei Sprachen zu sprechen. Häufig sind es auch drei, wenn zum Beispiel die Muttersprache Kurdisch ist, die Zweitsprache Türkisch und die Drittsprache Deutsch. Sie haben ihr Weltwissen ebenso differenziert aufgebaut wie ihre Sprachkompetenz. Aber in unseren Schulen und in unserer Gesellschaft bleiben sie »defizitär«.

Hier deutet sich eine Variante der Aporie an, die in ihrem Kern wohl so alt ist wie die ältesten, sozial geschichteten Hochkulturen. Die kulturell führenden Schichten sind zugleich die sprachmächtigen; »aufsteigen« heißt zunächst und vor allem Teilhabe an der »höheren« Sprache. Im Zeitalter moderner Demokratien wird dieser Zugang allen gewährt; wer »unten« bleibt, hat seine Chance verpasst. Eben diese Chancengleichheit aber erweist sich als scheinhaft: Der circulus vitiosus der sich reproduzierenden gesellschaftlichen Ungleichheit kann (bisher) durch Bildung nicht nachhaltig aufgebrochen werden, scheint sich vielmehr noch zu verschärfen. Zwischen Hakan und einem gleichaltrigen Gymnasiasten aus gebildeter Familie liegen Welten. Und auch Hakans Klassenkameraden, die in Deutschland geboren sind, haben als Hauptschüler längst das Gefühl verinnerlicht, zu den »Losern« zu gehören.

Gleichaltrige Gymnasiasten, die zur gleichen Zeit wie Hakan und seine Mitschüler am Thema »Ägypten« arbeiten, können Arbeitsblätter mühelos lesen, übernehmen selbstständige Forschungsaufgaben, viele von ihnen bringen ein breites Vorwissen mit, ja, manche langweilen sich, weil sie zum Thema schon so viel gelesen haben.

Schulen haben die Aufgabe, alle Schülerinnen und Schüler optimal zu fördern. Wie aber sollen sie das schaffen angesichts so enormer Unterschiede? Die spezifisch deutsche Antwort (ein fünfgliedriges Schulsystem mit Förder-, Gesamt-, Haupt-, Realschulen und Gymnasien) bringt erwiesenermaßen wenig und ist mit einer gesellschaftlich brisanten »Verliererschicht« teuer erkauft.

Wie könnte es anders gehen?

Die wichtigste Konsequenz für alle Schulen wäre, Kindern und Jugendlichen so viel Welterfahrung wie möglich zu bieten und zur Sprache zu bringen, von frühester Kindheit an. Handelnd und forschend wird Sprache angeeignet, nicht durch Arbeitsblätter! Kindergärten, Grund- und Sekundarschulen müssten an einem solchen ganzheitlichen Konzept zusammenwirken. Die Ganztagsschule bietet sehr gute Voraussetzungen dafür, wenn sie denn als Chance genutzt wird, das Lernen anders anzulegen. (Mit einer Fortsetzung des traditionellen Unterrichts am Vormittag, ergänzt um »Freizeit«angebote am Nachmittag, würde man diese Chance vertun.)

An Stelle einer vertieften Problem­analyse möchte ich eine solche gedachte Ganztagsschule vorstellen, die sich zum Ziel gesetzt hat, alle Schülerinnen und Schüler »mitzunehmen« in unsere Sprachkultur. In diesem Portrait mischen sich real existierende Schulen, es ist also keineswegs utopisch. Das Profil dieser Schule ruht auf zwei Grundpfeilern: einer reichen, im Schulleben verankerten Sprachkultur und einem alle Lehrerinnen und Lehrer verpflich­tenden und von ihnen mit getragenen Konzept »Lesen und Verstehen«.

Grundpfeiler 1: Sprachkultur und Schulleben

Die gedachte Schule geht von der Erkenntnis aus (ganz im Sinne des oben genannten Zitats), dass Sprache an und aus Erfahrungen gelernt wird. Sie nimmt also die Kinder im Vorschulalter auf (oder arbeitet eng mit einem Kindergarten und/oder einer Grundschule zusammen). Alle Kinder sollen die Primärerfahrungen machen dürfen, die wir den heute Heranwachsenden wünschen und die viele von ihnen sonst nicht machen könnten; nicht, weil sie »Freizeit« brauchen, sondern weil Weltwissen sich aus solchen Erfahrungen aufbaut (vgl. Elschenbroich 2001): den Wald erforschen, mit Wassern experimentieren, malen wie Picasso, ein Beet anlegen, gemeinsam kochen, sich im Sport erproben, über Gott und die Welt philosophieren …

An einer Schule, wo Kinder solche Erfahrungen machen, kann die Sprache sich am Leben entwickeln. Solche Erfahrungen sind Urstoff des Lernens und der Sprachentwicklung. Ergänzt wird er in üblicher Weise durch das Einüben der Kulturtechniken und ist eingebettet in eine reiche Sprachkultur. Jeder Tag beginnt mit einem Versammlungsritual. Von Klein auf lernen die Kinder, sich im Gespräch zu äußern anderen zuzuhören, sich an Regeln zu halten und Probleme gemeinsam zu lösen. Arbeitsergebnisse werden in der Gruppe vorgestellt und kommentiert; so entwickelt sich schon im Grundschulalter eine Feedback-Kultur. Jeden Tag wird vorgelesen, im Klassenraum gibt es Regale mit Büchern, und regelmäßig besucht die Gruppe die Schul- oder Stadtteilbibliothek.

Schreiben lernen die Kinder nicht nur in den Übungsstunden, sondern »am Tag entlang«. Sie schreiben und drucken kleine Texte und Geschichten, stellen sie aus oder tragen sie vor. Sie sammeln und beschriften Gegenstände, stellen Projektmappen zusammen, führen ein Gruppen- oder Reisetagebuch, stellen einander Bücher vor und sammeln Anregungen in einer Kartei.

Bei den Größeren werden diese Elemente weiter entwickelt. Ihre Sprach­erfahrungen erweitern sich in dem Maße wie ihre Welterfahrungen. Sie veranstalten öffentliche Lesungen oder Lesenächte, stellen ihre Projekt-Portfolios, Praktikumsmappen, Reisetagebücher, Jahresarbeiten aus, präsentieren vor Eltern oder einer größeren Öffentlichkeit, was sie geleistet haben. Von Klein auf haben sie gelernt, wie man vor einer Gruppe vorträgt, wie man Gespräche strukturiert, worauf es bei einer guten Präsentation ankommt, wie man Hilfsmittel nutzen, Texte gestalten und strukturieren, Themen selbstständig erarbeiten kann. Alle Jugendlichen verlassen die Schule mit einem individuellen Leistungsprofil.

Grundpfeiler 2: Lesen und Verstehen

Seit PISA wissen wir, wie hoch die »Risikogruppe« derer ist, die nur die unterste Stufe der Lesekompetenz erreichen oder noch darunter bleiben. Eine sinnvolle Teilhabe an unserer Kultur ist für sie kaum möglich. Es ist erschütternd zu erleben, welche Vermeidungsstrategien solche Jugendlichen gegen­über dem Lesen entwickeln, und noch mehr, wie sie am Lesen scheitern. Oft stolpern sie durch den Text, bleiben an Wörtern hängen, machen an falschen Stellen Pausen und wissen am Ende eines Abschnitts nicht, was sie gelesen haben. Sie lesen, ohne zu verstehen.

Die gedachte Schule wirkt dem mit einem umfassenden Lesekonzept entgegen. Die Kinder sind von Büchern umgeben, bei den Kleinen wird täglich vorgelesen, Lesen und der Umgang mit Texten ist schon für Vorschulkinder selbstverständlicher Bestandteil des Alltags. Die Kunst der Lehrerinnen und Lehrer besteht darin, vielfältige Leseanreize zu schaffen, die Leseentwicklung aller Kinder im Blick zu haben und jedem durch differenzierte Hilfen den Schritt zur »Zone der nächsten Entwicklung« zu ermöglichen. Sinnentnehmendes Lesen wird methodisch in kleinen Schritten aufgebaut. Es kommt zum Ausdruck, wenn Kinder sinngebend lesen können, das heißt zunächst: einen Satz antizipieren, in Sinnabschnitte unterteilen und vortragen können.

Lesen ist aktive Aneignung: Auf diesem Grundsatz beruht das Konzept. Geschichten werden nicht nur nacherzählt, ihr Inhalt wird nicht nur abgefragt, sondern vielfältig angeeignet: durch Nachspielen, Dialogisieren, Umformen, Verfilmung oder Vertonung, durch Vorstellung der Personen, Steckbriefe, Tagebücher, durch Streitgespräche zu strittigen Fragen und vieles mehr. Eine Unterrichtseinheit »Kurzgeschichte« zum Beispiel läuft nicht gradlinig in Richtung Klassenarbeit, sondern öffnet vielfältige Aneignungswege, die in den Portfolios der Schülerinnen und Schüler dokumentiert sind: eigene Gestaltungsversuche, eine vertiefte Auseinandersetzung mit einer Geschichte, das Portrait eines Autors.

In allen Fächern wird Spracharbeit geleistet. Die Situation, dass ein Sachtext nicht verstanden wird, soll gar nicht erst entstehen: Nicht die Schülerinnen und Schüler haben die »Bringschuld« des Verstehens, sondern die Lehrkräfte! In gemeinsamen Fortbildungsveranstaltungen haben sie sich methodisch geschult: Wie man, anknüpfend an das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler sachbezogene Sprachfelder aufbaut, wie man Sach­texte durch Untergliederung, Zwischenüberschriften, manchmal auch durch Umschreiben vereinfacht, bis sie für alle verstehbar sind, wie man methodische Hilfen zur Texterschließung gibt, beginnend von »Selbstverständlichkeiten« wie Unterstreichen oder Stichworten am Rand, wie man alle Schülerinnen und Schüler durch Formen kooperativen Lesens, reziproken Übens, durch Leseaufträge und Forschungsfragen zum Lesen aktiviert, mit einem Wort: wie das Denken an Texten geschult werden kann und muss.

Wege zur Förderung von Sprachkompetenz

In diesem Heft kommen Autorinnen und Autoren zu Wort, die sich dem Thema »Sprachkompetenz fördern« aus unterschiedlichen Richtungen nähern. Die meisten von ihnen unterrichten nicht Deutsch, sondern kommen vom Fachunterricht her und heben jeweils andere Aspekte der Sprachförderung hervor. So wird die Aufgabe in ihrem ganzen Umfang sichtbar.

Grundlagen sichern, sprachliches Rüstzeug vermitteln:
Sicherung von Basisqualifikationen

Zu Beginn der Sekundarstufe II sollten alle Schülerinnen und Schüler in der Lage sein, anspruchsvolle Fach­texte zu verstehen und anspruchsvolle Facharbeiten zu schreiben. Tatsächlich bringen sie jedoch enorm unterschiedliche Voraussetzungen mit und teilweise enorme Defizite, die in jedem Fachunterricht durchschlagen. Wie kann eine Schule darauf antworten?

Am Bielefelder Oberstufen-Kolleg hat man ein gestuftes und differenziertes System entwickelt, um sprachliche Basisqualifikationen systematisch aufzubauen und methodisch abzusichern. Karin Volkwein schildert die Praxis einer Schule mit sehr heterogener Klientel, die diese Unterschiede bejaht und didaktisch beantwortet. Grundlage dieses Konzepts ist die Verbindung von Individualisierung und systematischem Fortschreiten durch eine differenzierte Methodik und Kurskombination. (»Basiskompetenz Deutsch«)

Den biografischen Kontext verstehen:
Lernwege individuell begleiten

Die Siegener Studie LISA & KO hat individuelle Entwicklungen und Lernverläufe von ca. 130 Kindern über Jahre hinweg begleitet und in Form von Portraits dokumentiert. Eine an diesem Projekt beteiligte Studentin (zur Zeit Lehramtsanwärterin, demnächst Lehrerin) zeigt am Beispiel eines Mädchens, dass und wie der Aufbau sprachlicher Kompetenzen im Kontext der biografischen Entwicklung verstanden werden kann. Dabei wird eine unerwartet große Diskrepanz sichtbar: Was dieses Mädchen kann und leistet, wird in der Schule vielfach nicht gesehen und nicht gewürdigt, weil dort Lernwege eben an normierten Anforderungen gemessen werden und nicht nach individuellen Verläufen. Ein großes Potenzial an Sprachkompetenz bleibt so ungesehen und ungenutzt. Elena Schiemann stellt diese Fallstudie vor und leitet daraus Konsequenzen für einen individualisierenden Unterricht ab (»Sprachkompetenz im biografischen Kontext«).

Texte und Sachen verstehbar machen:
Herausforderung an Lehrerinnen und Lehrer

Wenn Kinder und Jugendliche mit Schulbuchaufgaben nicht klar kommen oder Sachtexte nicht verstehen, hat das in den meisten Fällen mit Sprachproblemen zu tun. Ein junger Lehrer, erfahren im Umgang mit Jugendlichen, die Deutsch als Zweitsprache sprechen, zieht daraus eine entschiedene Konsequenz. Nicht die Jugendlichen sind »schuld«, wenn sie etwas nicht verstehen, sondern die Erwachsenen. Es ist Aufgabe der Lehrerinnen und Lehrer, das Lernpensum so aufzubereiten, dass es von allen verstanden und angeeignet werden kann. Dafür gibt es gute Beispiele, ausgearbeitete Methoden, geeignetes Material. Vor allem aber kann und muss jeder Lehrer, jede Lehrerin selbst die Verantwortung dafür übernehmen, dass alle mitkommen. Cihan Arslan zeigt am Beispiel seines Geschichtsunterrichts in einer »Brennpunkt«-Hauptschule, wie das aussehen kann. (»Meine Schüler verstehen nicht alles – Sprachsensibilisierung im Fachunterricht«)

Das Denken zur Sprache bringen:
Lernen als Suchbewegung

Verstehen ist eine individuelle Suchbewegung. Im Konzept des Dialogischen Lernens von Urs Ruf und Peter Gallin wird dies zur Grundlage einer veränderten, fächerübergreifenden Didaktik. Der Weg des Verstehens führt vom Ich über das Du zum Wir, von der Sprache des Verstehens zur Sprache des Verstandenen (Ruf/Gallin 1998), im »Austausch unter Ungleichen« (so der Untertitel des Buches). Wie das konkret im Unterricht aussehen kann, schildert Wiltraud Schillig am Beispiel ihres Mathematikunterrichts am der IGS Franzsches Feld in Braunschweig. Dabei zeigt sich, dass Mathematik nicht nur viel, sondern alles mit Sprache zu tun hat: Schülerinnen und Schüler nähern sich der Sache an, indem sie sich an einem Problem abmühen, ihr Suchen und ihr Noch-nicht-Verstehen, ihre Zwischenergebnisse und schließlich das Verstandene zur Sprache bringen. (»Von der Sprache des Verstehens zur Sprache des Verstandenen«)

Das Eigene am Fremden verstehen:
Sprachkompetenz durch Sprachenkompetenz

Wir eignen uns die Welt sprachlich an, später wachsen wir in die Lese- und Schreibkultur hinein. Die erste Fremdsprache gleicht einer dritten Dimension: die Welt kann auch ganz anders aussehen! Weitere Sprachen eröffnen den Blick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede. – Das Gymnasium ist der traditionelle Ort einer differenzierten mehrsprachigen Kultur. Gymnasien haben aber heute keineswegs mehr eine elitäre Klientel, sondern vielmehr eine höchst heterogene. Wie kann ein modernes Gymnasium seinem traditionellen Auftrag gerecht werden und zugleich den unterschiedlichen Schülerinnen und Schülern? »Die Antwort auf Vielfalt ist Vielfalt«, sagen Ingvelde Schulz und Henning Zimmermann. Am Beispiel des Friedrich-Schiller-Gymnasiums in Marbach zeigen sie, wie diese Vielfalt realisiert und methodisch gesichert werden kann: auf der Ebene des Fachunterrichts und des Schulcurriculums. Den Reichtum der kulturellen und sprachlichen Vielfalt können Jugendliche so am eigenen Leibe erleben. (»Differenzierter und interkultureller Fremdsprachenunterricht«)

Zum Ausdruck bringen:
Theater als Sprachschule

Jugendliche stehen auf der Bühne, als »Performer« spiegeln sie einzeln oder im Chor sprechend den Erwachsenen, wie sie deren Welt wahrnehmen. Das Stück hat keine Handlung, das Sprechen selbst wird zur Handlung. Sprache, verstanden als langue und parole, als Kompetenz und Performanz (sehr verkürzt nach de Saussure/Chomsky/Austin/Searle) wird im Theater in einem eigenen Modus erfahren: In der Performanz bildet sich die Kompetenz heraus, nicht umgekehrt. Theater ist eine Sprachschule der besonderen Art: Sprache wird hier körperlich zum Ausdruck gebracht. Wie Jugendliche das erleben und was sie dabei lernen können, schildert Maximilian Weig am Beispiel eines Theapterprojekts. (»Von der Sprache zum Sprechen – Sprachkompetenz im Theater als performatives Wissen«)

Ausblick

Diese unterschiedlichen Wege sind an unterschiedlichen Schulen entwickelt worden, von Menschen, die einander nicht kennen. Dennoch gibt es einen Roten Faden, der sie verbindet. Alle zeigen, wie Sprache in lebendiger Interaktion erfahren und gelernt werden kann, wie Jugendliche lernen, indem sie ihr Denken zur Sprache zu bringen, und wie Erwachsene lehren, indem sie diesen Prozess anleiten und geeignete Hilfen geben.

Eine ganzheitliche, altersgerecht gestufte Sprachdidaktik auf dieser Basis ist in einzelnen Schulen bereits entwickelt. Die Bielefelder Studie »Literalität und Leistung« zeigt am Beispiel der Laborschule, wie ein solches Konzept aussehen kann (Döpp et al. 2009). Auf Länder- oder Bundes­ebene ist diese umfassende Sprachdidaktik jedoch kaum entwickelt, obwohl so viele Erkenntnisse und Erfahrungen vorliegen. Zu sehr werden die Schularten separat gesehen, die Anforderungen auf den Jahrgangsdurchschnitt bezogen, die Aufgaben und Kontrollen normiert. Viele Studien zeigen, dass es dem deutschen Schulsystem trotz aller Anstrengungen nicht gelingt, die »Sozialschere« zu verringern und alle Schülerinnen und Schüler zu verantwortlicher, kompetenter Teilhabe an unserer Sprachkultur zu verhelfen.

Es scheint so, als müssten wir die Förderung von Sprachkompetenz in gemeinsamer Anstrengung neu denken.

Literatur

  • Elschenbroich, D. (2001): Weltwissen der Siebenjährigen. Wie Kinder die Welt entdecken. München 2001
  • Döpp, W./von der Groeben, A./Husemann, G./Schütte, M./Völker, H. (Hg.) (2009): Literalität und Leistung. Bausteine einer pädagogischen Sprachdidaktik. Bad Heilbrunn
  • Ruf, U./Gallin, P. (1999): Dialogisches Lernen in Sprache und Mathematik. Velber

Dr. Annemarie von der Groeben, Jg. 1940, war bis 2006 didaktische Leiterin der Bielefelder Laborschule. Sie ist Mitglied der Redaktion von PÄDAGOGIK und unter anderem für den Bildungsverein Tabula e. V. tätig.
Adresse: Ellerstr. 29, 33615 Bielefeld
E-Mail: annemarie[at]v-d-groeben.de


Aus: Pädagogik 6/2010