Vor der Klasse stehen
Raumregie und Körpersprache

Herbert Gudjons

Didaktisch gibt es für die Situation, vor der Klasse zu stehen, wenig Neues zu sagen. Aber sozialpsychologisch ist sie kaum beleuchtet worden. Dass Lehrkräfte auf ihrer »Bühne« z.B. auch mit dem Körper kommunizieren, ist oft nicht bewusst. Überraschend sind dabei die Parallelen zum Theater: Zwar sind Lehrkräfte keine Schauspieler, aber die Szenen sind verwandt, wir können einiges vom Theater lernen. Im Mittelpunkt steht dabei ein Frontalunterricht, der in offene Unterrichtsformen integriert ist.

Befürworter wie Gegner des Frontalunterrichtes kennen die Situation aus dem Alltag: »Vor der Klasse stehen …« Daran ändert auch eine neue, auf die eigenständige Aktivität der Schülerinnen und Schüler gerichtete Unterrichtskultur wenig, – auch wenn mit ihr das Vor-der-Klasse-Stehen der Lehrkraft seltener wird. Was aber wird mit der Autorität der Lehrenden?
Dieses Hintergrundproblem, nämlich das Verhältnis von Schüleraktivität/Schülerbeteiligung einerseits und Lenkung/Autorität der Lehrkraft andererseits war das Thema jenes von Johannes Bastian 1987 herausgegebenen Bandes der Buchreihe dieser Zeitschrift. Der Band mit dem Titel: »Vor der Klasse stehen« war ein engagiertes Plädoyer für eine profilierte Lehrerrolle in schülerorientierten Lernprozessen. (Bastian 1987, 80) Das vorliegende Heft nimmt den Buchtitel wieder auf und führt die Thematik konkretisierend weiter. Dabei werden weniger das Autoritätsproblem (obwohl nach wie vor aktuell) fokussiert als vielmehr die didaktischen, psychischen und körperlichen Implikationen des Vor-der-Klasse-Stehens ausgeleuchtet. Denn heute ist die Frage bedrängend, wie angesichts von temporeichen Reformprozessen, gestiegenen Anforderungen an den Lehrerberuf, Herausforderungen durch eine sich wandelnde Schülerschaft, immer neuen Aufgaben im Alltag, gesundheitsgefährdender Lehrerüberlastung eben diese der Standardsituationen besser gelingen kann: Vor der Klasse zu stehen. Drei Aspekte möchte ich aufgreifen, nämlich:

Körperlichkeit, Frontalsituation, Theater

Erstens muss der Hefttitel ganz wörtlich genommen werden: Es geht um die Körperlichkeit der Lehrkraft in dieser Situation. Was kann man tun, um physische wie psychische Überanstrengung zu vermeiden, wie kann man überhaupt erst einmal sensibel werden für die eigene körperliche Befindlichkeit? Viel zu wenig bekannt ist in diesem Zusammenhang die Wirkung der nonverbalen Kommunikation (vor allem der Körpersprache, vgl. Eichler in diesem Heft). Auch die Stimme der Lehrkraft muss gepflegt und ihr Einsatz im Unterricht optimiert werden, damit die typischen Stimmbandprobleme der Lehrkräfte minimiert werden. Mir ist nicht bekannt, dass im Studium oder Referendariat systematisches Stimmtraining verpflichtend wäre. Lieber nimmt man chronische Überlastung, Schäden und Erkrankung durch Unkenntnis der wichtigsten Regeln beim Stimmeinsatz in Kauf (vgl. Gutzeit in diesem Heft).
Zweitens legt der Hefttitel den Verdacht nahe, dass der Frontalunterricht gestärkt werden soll. Immerhin zielt die Formulierung auf eine der Standardsituationen, die dem Frontalunterricht übrigens seinen Namen gegeben hat (abgeleitet von lat. frons = Stirn). Ich plädiere keineswegs für eine Stärkung des traditionellen Frontalunterrichtes, sondern greife in diesem Zusammenhang auf das Konzept eines Integrierten Frontalunterrichtes zurück, über das in dieser Zeitschrift schon berichtet wurde (Vgl. PÄDAGOGIK H.1/2004). Welche Funktionen können frontale Phasen in einem offenen Unterricht haben und wie können sie professionell gestaltet werden? Keine Lehrkraft kommt umhin, immer wieder auch vorn zu stehen.
Drittens schließlich weckt das Vor-der-Klasse-Stehen eine naheliegende Assoziation: Geht es dem Lehrer nicht ähnlich wie dem Schauspieler auf der Bühne? Allerdings ist die Frage, ob man die (pädagogisch geprägte) Tätigkeit der Lehrkraft vor der Klasse mit der (unterhaltungs­orientierten) des Schauspielers im Theater überhaupt vergleichen kann. So ungewohnt und originell diese Perspektive sein mag, sie muss genau differenzieren zwischen Schauspiel und Unterricht, zwischen »Schauspielerei« und berechtigten Analogien zwischen Theater und Schule. Dennoch kann ein Blick auf die Erfahrungen im Theater auch für das Vorne-Stehen im Unterricht erstaunliche Anregungen und Hilfen vermitteln. Ich greife dabei auf die Arbeiten von zwei Lehrern zurück, die zugleich Schauspieler sind. (Müller 1999, Kramer 2008).

Wie im Theater

In der Tat gleichen sich die Situationen: Vor der Klasse stehen (dies gilt auch für Schüler und Schülerinnen) heißt, »im Rampenlicht« zu stehen, Zuschauer und Zuhörer zu haben, es gibt eine »Bühne« mit einem oder mehreren Akteuren, man nimmt Rollen ein u.a.m. Viele Wirkungsmechanismen des Theaters sind übertragbar auf die schulische Situation. Wenn die banale Einsicht: »Alles hat (s)eine Wirkung« stimmt, dann stellt sich die Frage, was eine Lehrkraft über die Wirkungen ihres »Auftrittes« (besser: Auftretens) eigentlich weiß; über ihre Gangart, ihre Stimme, ihre Redekunst, ihren Geruch, ihre Blicke, ihren Habitus, vielleicht »Tics«, die man selbst gar nicht wahrnimmt u.a.m. Kramer (2008, 76) berichtet, dass Schüler hervorragende Beobachter sind: »Im Schullandheim stellten meine Schüler mich als Lehrer dar. Zuerst pantomimisch, dann auch mit Sprache. Es ist unglaublich, wie gut Schüler auch kleine Details beobachten können. Die Betrachtung schülergespiel­ter Lehrerdarstellungen ist sehr aufschlussreich. So war mir nach dieser Theatervorstellung meiner Schüler klar, dass der Lehrer nichts, aber auch gar nichts vor seinen Schülern verstecken kann.«

Dramaturgie nutzen

Wie kann man die Analogie Theater – Schule pädagogisch fruchtbar machen? Sehr nützlich sind einige dramaturgische Gestaltungsmittel. (Vgl. Heymann 2008, zum Folgenden: Kramer 2008; der Grundgedanke, »Didaktik als Dramaturgie des Unterrichtes« wurde bereits 1959 von dem Hamburger Schulpädagogen Gottfried Hausmann entwickelt.)

Anfang und Ende

Wichtig ist z.B. der erste Augenblick bzw. das erste Mal (Kramer 2008, 7), weil sich der Zuschauer schon in den ersten Sekunden einer Begegnung ein Bild vom Akteur macht, das seine weitere Wahrnehmung leitet (und natürlich korrigiert oder erweitert werden kann). Also verdient die Gestaltung von Anfangsphasen größte Sorgfalt. Auch wenn ein Thema zum 35. Mal unterrichtet wird, soll die Lehrkraft sich »überraschen« lassen: »Wenn ich unterrichte, so soll es sein, als ob ich das Thema zum ersten Mal durchdenke! Als verstehe und entdecke ich selbst zum ersten Mal.« (ebd. 10) Ich meine aber, dass diese Empfehlung eine Gratwanderung beinhaltet zwischen Vorspielen von Entdeckerfreude (die in Wirklichkeit gar nicht da ist) und echtem sich immer wieder Überraschen-Lassen (so wie ein Schauspieler sich auch bei der 35. Aufführung einer Szene innerlich auf die Überraschung einstellt).
Ebenso wichtig ist das Ende. Wie viele Unterrichtsstunden lassen eine »Kultur des Zum-Schluss-Kommens« vermissen. Es hat zwar geklingelt, aber schnell noch wird dies und jenes nachgeschoben, die Hausaufgabe eilig gestellt und an die nächste Stundenplanänderung erinnert. Anders im Theater: Die letzte Szene – und dann Licht aus. Das Publikum weiß das Ende und kann klatschen. Kleine Rituale am Stundenende können hier hilfreich strukturieren, z.B.: Verschiedene Schüler fassen den Inhalt der Stunde so kurz und prägnant wie möglich zusammen, die beste wird vom Lehrer ausgewählt und durch Klatschen des Publikums gewürdigt. Dann ist Schluss.
Als Mittel der Dramaturgie zwischen »Anfang« und »Ende« sind z.B. nutzbar: Polarisierungen (Wechsel zwischen laut und leise, langsam und schnell, Zeit lassend und fordernd, reden und schweigen u.a.m.), Rhythmisierung und klare Abfolge, Pausen einbauen, ungewöhnliche Effekte (z.B. wichtige mathematische Formeln nicht an die Tafel, sondern mit abwischbarer Flüssigkreide an die Fensterscheibe (!) schreiben) u.a.m. Aber auch die Beleuchtung des Raumes kann wie im Theater für bestimmte Effekte genutzt werden (z.B. kann man einen OHP als Scheinwerfer benutzen oder man kann bei besonderen Stunden auch außerhalb der Weihnachtszeit eine Kerze vorne aufstellen, was einen erstaunlichen Stimmungswechsel mit sich bringen kann).

Positionen wirken unterschiedlich
Man sieht: Die Raumgestaltung wirkt unterschwellig mit. Darum ist auch die Sitzordnung von großer Bedeutung. In der traditionellen Frontalsitzordnung (Tischreihen hintereinander) muss sich die Lehrkraft klarmachen, dass sie vorne steht und die Schüler sitzen, »theatralisch bedeutet das: Der Lehrer befindet sich die ganze Zeit über im Hochstatus, der Schüler im Tiefstatus.« (ebd. 27) Er blickt auf die Schüler herab, die­se zu ihm hinauf. Die unbewusste Wahrnehmung im Sinne einer Machtdemonstration liegt nicht sehr weit entfernt. Dieses Oben-Unten ist nicht unmoralisch, man muss nur um die Wirkung wissen. Man kann mit kreativen Methoden aber auch alte Sitzordnungen und Lernarrangements auflösen (vgl. PÄDAGOGIK H.12/2006: »Kreativer Unterricht«). Oder man kann durch Bewegung im Raum die Schülerkörper in die Darstellung von Inhalten einbeziehen (z.B. Moleküle, Atommodelle, Planetenlaufbahnen, Beziehungen von Personen in einem Drama, Positionen in einem gesellschaftlichen Konflikt u.a.m.) und so das Lernen anschaulich machen (vgl. dazu PÄDAGOGIK H.10/2005: »Bewegter Unterricht«).
Zu bedenken ist ferner, dass sich oft bestimmte »Territorien« für die Lehrkraft eingeschliffen haben. In der Regel ist ihre Hauptdomäne der Raum zwischen Pult und Tafel. Schüler hingegen werden extra aufgerufen, diesen Raum zu betreten (z.B. um etwas an die Tafel zu schreiben). Verlässt der Lehrer diesen Raum, »steigt er aus dem Ring«. Das kann unterschiedliche Wirkungen haben: Er kann sein »Machtmonopol« aufgeben und sich zu den Schülern »gesellen«, er kann auf einen Schüler u.U. bedrohlich nahe zugehen, um ihn zu kontrollieren oder zurechtzuweisen, er kann sich einem Schüler nähern, um ihm im Heft etwas zu erklären und ihm zu helfen u.a.m. Wo sich der Körper des Lehrers befindet, ist keineswegs gleichgültig, auch hier gibt es unbewusste Wirkungen verschiedener Positionen, die Müller (in diesem Heft) in Analogie zum Theater beschreibt.
Die unterschiedlichen Positionen der Lehrkraft können aber auch ganz bewusst für unterschiedliche Elemente, Phasen und Besonderheiten des Unterrichtes genutzt werden, was aber genau eingeübt werden und dann auch regelmäßig praktiziert werden muss. Beispiele für solche »Platzcodierungen« sind: Steht die Lehrkraft vorn in der Mitte, heißt das: unbedingte Aufmerksamkeit! Steht sie an der Seite des Klassenraumes, heißt das: Es kann jetzt locker zugehen … Steht sie hinten, bedeutet das: Ich halte meinen Mund, ihr könnt in Ruhe arbeiten, ich werde euch in der Einzel- oder Partnerarbeit nicht unterbrechen …

Figurentheater: Fridolin
Schließlich ist eine kleine Technik aus dem sog. Figurentheater interessant und (durchaus auch in der Sekundarstufe) überraschend effektiv. (Kramer 2008) Der Lehrer hat eine 10–15 cm große Stofffigur (Plüschtier) besorgt, die den Namen Fridolin und eine eigene »Lernbiografie« hat: Sie hat Angst vor Prüfungen, Vorlieben für bestimmte Themen, stellt als dankbarer Trottel gern »dumme« Fragen, sie hat Sorgen und alltägliche Probleme. Die Figur ist regelmäßiger Begleiter des Unterrichtes, sie traut sich, naheliegende, aber falsche Hypothesen aufzustellen (z.B.: »Fridolin hat nachgezählt: Jedes Elektron, das ihm das Kraftwerk geschickt hat, hat es auch zurückbekommen. Keines, wirklich keines hat er weggenommen. … Bezahlen Sie ja keine Stromrechnung!« (ebd. 147) Schüler können sich in die Figur hineinversetzen, sich als Zuschauer mit ihr identifizieren. Wenn Schüler und Schülerinnen z.B. wissen, dass Fridolin Höhenangst hat, kann sein Einsatz bei der wissenschaftlichen Erklärung des Bungeesprunges den Schülern helfen, die entscheidenden Fragen zu ihren eigenen Fragen zu machen, zumal Fridolin ständig Fragen (die sich Schüler oft zu stellen nicht trauen) einbringen darf.
Bereits diese wenigen Hinweise und Ideen zeigen die Fülle von Anregungen, die eine Analogie von Theater und Frontalsituation für den Unterricht haben kann. Allerdings ist dies kein Plädoyer für den herkömmlichen Frontalunterricht. Welcher Frontalunterricht ist gemeint?

Frontalunterricht – sinnvoll und unverzichtbar

Die Kritik am Frontalunterricht ist bekannt. (Wiechmann 2002) In der Diskussion um den Frontalunterricht unterscheide ich zwei Varianten:
»traditioneller Frontalunterricht«: Er ist auf weiten Stecken die einzige, zumindest die überwiegende Sozialform des Unterrichtes, man kann ihn daher auch als dominierenden oder isolierten oder alleinigen Frontalunterricht bezeichnen oder kurz eine Allzweckwaffe oder seriöser methodische Monokultur nennen;
ein anderes Konzept des »integrierten Frontalunterrichtes«, das sich auf die Integration frontalunterrichtlicher Phasen in eigentätige, selbstverantwortete und selbstgesteuerte Schülerarbeitsformen richtet. Sein Zeitanteil sollte nicht mehr als 30 Prozent betragen.
Ein solcher Frontalunterricht ist sinnvoll und unverzichtbar ist, weil er

  • erstens in Unterrichtsformen integriert ist, die Eigentätigkeit, Selbstverantwortung, Selbststeuerung, und Kooperation der Lernenden fördern, und weil er
  • zweitens im Rahmen dieser Integration als wichtige Phase eigenständige didaktische Funktionen nachweisen kann. Er muss allerdings modern und professionell gestaltet werden.

Frontalunterricht wird folglich schrumpfen auf Phasen des Unterrichtes, die in offene Unterrichtsformen integriert sind. Aber: Welche Funktionen kann er dann (noch) haben? (Zum Folgenden ausführlicher Gudjons 2007)

Unverzichtbare Funktionen

Äußere Potenziale nutzen
Wenn die gesamte Lerngruppe gemeinsam arbeitet, kann ihr volles Potenzial z.B. zur Lösung eines Problems ausgeschöpft werden. –Frontale Phasen sind relativ gut vorausplanbar (anders als Kleingruppenarbeit). –Die Lehrkraft kann sofort eingreifen, wenn etwas schief läuft, unmittelbare Rückkopplungen sind jederzeit möglich. –Nicht zu unterschätzen ist auch die lebendige Interaktion mit der Person des Lehrers: Humor, Begeisterung und Freude können »überspringen«, ganz anders als z.B. bei Einzelarbeit an Aufgaben. –Außerdem kann die Lehrkraft Vorbild und Modell für alle gleichzeitig sein, z.B. in der Sprache, im Lösen von Kon­flikten u.a.m. –Manchmal ist Frontalunterricht nach arbeitsintensiven selbstständigen Projektabschnitten für die Schüler auch eine Erholung…
Informieren und darbieten
Dass Informationen in einer frontalen Phase für alle dargeboten werden müssen, wenn es um die Einführung in eine neues Sachthema geht, wenn es um Grundlagen für weitere Arbeiten geht oder um für alle verbindliche Zusammenfassungen, Vorstellung von Ergebnissen etc., dürfte unstrittig sein. Hier haben (professionell gestaltete!) Lehrervorträge und Schülerpräsentationen ihren legitimen Ort. Allerdings ist eine baldige Vertiefung durch andere Unterrichtsformen nötig, denn nur Dargebotenes wird relativ schnell wieder vergessen.

Beim Stoff-Erarbeiten: Das Lernen vernetzen
Soll Wissen nicht aus isolierten Bruchstücken bestehen, müssen gemeinsam die notwendigen übergreifenden Zusammenhänge und Perspektiven erarbeitet werden. Hier haben die verschiedenen Gesprächsformen im Frontalunterricht ihren unaufgebbaren Ort. Es geht um den Aufbau semantischer Netzwerke: Wissen wird verstanden als Sich-Kreuzen und Verknüpfen von »Fäden« im Gehirn. Andernfalls entsteht sog. »träges Wissen«, das nicht systematisch eingeordnet wird, das nicht zur Anwendung kommt, schwer abrufbar ist und bald wieder vergessen wird. Hintergrund für diese Funktion des Frontalunterrichtes ist die »Cognitiv-flexibility-Theorie«, nach der sinnvolle Wissensverarbeitung in multiplen Kontexten erfolgt, beweglich auf andere übertragen werden kann und »kognitive Landschaften« mit komplexen »Domänen« ausformt. (Reinmann-Rothmeier/Mandl 1998, 469)

Lernmethoden vermitteln
Wer von Schülern und Schülerinnen selbstständiges Arbeiten erwartet, muss ihnen dazu das nötige Handwerkszeug, d.h. Lern- und Arbeitsmethoden (auch fachspezifisch) vermitteln. Im Frontalunterricht werden sie vorgestellt, erklärt und erarbeitet, in anderen Unterrichtsformen vertieft, eingeübt und angewendet (vgl. PÄDAGOGIK H. 7-8/2007: »Selbstreguliertes Lernen«).

Entdecken und Problemlösen
Frontale Phasen zielen auf die Vermittlung der notwendigen Qualifikationen und Kompetenzen in der selbstständigen Problemlösung. Verfahren, Techniken und Strategien müssen erst einmal gemeinsam erarbeitet werden, bevor sie in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit angewendet werden können. Instruktion und Selbstständigkeit sind nicht trennbar beim Entdecken und Problemlösen.

Ergebnisse sichern, üben und wiederholen

Unterrichtsergebnisse müssen in ihrem Stellenwert für alle Lernenden verdeutlicht werden: Ein Thema muss gemeinsam zusammengefasst werden, Unverzichtbares muss wiederholt und geklärt werden, manches ist auch zu üben, – und zwar mit sinnvollen Techniken und Strategien (vgl. PÄDAGOGIK H.11/2005: »Intelligentes Üben«).

Lernprozesse planen, koordinieren und auswerten
Eine gemeinsame Unterrichtsplanung dürfte immer noch selten sein. Unverzichtbar ist sie allerdings bei intensiveren Kleingruppenphasen oder projektähnlichem Vorgehen (Gudjons 2008, S.93ff.). Aber auch Zwischenphasen zur Abstimmung, zur Koordination und Rückkopplung zur Ausgangsplanung sind im Prozessverlauf immer wieder nötig. Ebenso selbstverständlich ist die Auswertung in Form von Gruppenpräsentationen, Feedback und Reflexion der gemeinsamen Arbeit (vgl. Gudjons 2006, S.113ff.).

Klassengemeinschaft fördern
Dass die gezielte Gestaltung der sozia­len Ebene einer Lerngruppe kein beliebiger Luxus ist, wissen wir spätestens durch Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen einer guten Lernatmosphäre und kognitiven Lernleistungen der Schüler und Schülerinnen (Schweer 2000). Die Pflege der Kohäsion einer Klasse, ihres Wir-Gefühles und ihrer Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit ist daher zentrale Funktion des Frontalunterrichtes, aber auch Gegenstand aller Initiativen im Rahmen des Schullebens (Feiern, Feste, Klassenreisen etc.).

Feedback als Weg zum schülerorientierten Frontalunterricht
Rückmeldungen von Schülern und Schülerinnen – methodisch gut organisiert und mit vereinbarten Konsequenzen – sind ein hervorragendes Mittel, um den Lernenden mehr Einfluss auf die Gestaltung des Unterrichtes einzuräumen und gerade den Frontalunterricht zu befreien von seinem Nimbus direktiver Lehrersteuerung bei passiven Schülern. (Bastian/Combe/Langer 2005)

Was heißt: Integrierter Frontalunterricht?

Integration heißt zunächst einmal nicht: Abwechslung, Methodenmix, Methodenwechsel. Dies alles ist zwar nicht schlecht und wird darum auch in der ersten Stunde der Seminarausbildung vermittelt. Integration heißt auch nicht Addition, mal dieses – mal jenes. Es geht um ein qualitativ bestimmbares Verhältnis der verschiedenen Formen und Phasen des Unterrichtes zueinander. Sie sind so verzahnt, dass eine Form auf die andere angewiesen ist, isoliert also ein Torso wäre, und andererseits
jeweils eigene Lernprozesse mit eigener Qualität in den verschiedenen Lernformen und Unterrichtsphasen unterscheidbar sind.


Eines ergibt sich aus dem andern, erst das Gesamt«konzert« der Unterrichtseinheit bringt diese Integration hervor. Das zeigt ein praktisches Beispiel.

Ein Unterrichtsbeispiel
In einer Unterrichtseinheit von 19 Stunden über den Lehrsatz des Pythagoras im 8. Jahrgang (Nölle 1997, 44ff. – ich greife nur die Anfangsphase auf) steht am Anfang die Hinführung zum Problem. Dies geschieht durch einen handlungsorientierten Einstieg: Schülerversuche in Gruppen mit dem altägyptischen Knotenseil, in welchem in gleichen Abständen Knoten angebracht sind, mit der Aufgabe, rechtwinklige Dreiecke daraus zu legen. Die Ergebnisse der Gruppen (Zahlentripel) werden frontal an der Tafel festgehalten und diskutiert.
Es folgen Zaubertricks der Lehrerin (frontal) mit Dreiecken und Quadraten: Sie kann aus zwei beliebigen Quadraten eines herstellen, das doppelt so groß ist wie die beiden ursprünglichen Quadrate, und das nur mit Tisch, Lineal und Schere! Wie geht das? Die eigene Suche nach Lösungen in Partnerarbeit (Tandems) setzt ein, Lösungen werden im Klassenplenum (frontal) protokolliert und diskutiert. Nachdem die Schüler in der anschließenden Gruppenarbeit zur Formulierung der Gesetzmäßigkeit in einer Sackgasse gelandet sind, führt die Lehrerin die Sache weiter durch gezielte Aufträge für Einzel-, Gruppen- und Partnerarbeit, aber auch in Lehrerdarbietungen, Lehrervortrag sowie in einem gelenkten, fragend-entwickelnden Gespräch mit der Gesamtklasse, bis der Satz des Pythagoras – zunächst noch als verbale Formulierung ohne codierte Abkürzungen – an der Tafel steht. Nach der gemeinsamen Erarbeitung erfolgt die Ergebnissicherung und Anwendung wieder durch schriftliche Einzelarbeit. Es schließt sich die Frage der Beweise an – usw.

Funktionen frontaler Phasen
Die gemeinsamen frontalunterrichtlichen Phasen haben in unserem Beispiel drei Funktionen:
Sie bereiten die selbstständige Arbeit der Schüler in unterschiedlichen Gruppierungen vor, indem sie Probleme aufzeigen, Staunen, Faszination und Spannung hervorrufen und daran anschließend Aufgaben stellen;
sie fassen zusammen, sichern und festigen Ergebnisse, indem sie Fragen präzisieren, Lösungen vergleichen, Offenes thematisieren, Ungeklärtes benennen;
sie erklären, geben neue Impulse und regen weitere Suchprozesse an, indem sie inhaltlich stringent an der Sache entlang führen und den roten Faden des Vorgehens sichern.
Produktive Schülerarbeit entsteht erst aus dem Frontalunterricht, – und umgekehrt: Frontale Phasen sind sozusagen angewiesen auf das, was die selbstständige Schülerarbeit erbracht hat, ein Wechselbezug also, bei dem sich Instruktion und Selbstkonstruktion im Lernprozess fruchtbar ergänzen. Die Dramaturgie des Unterrichtes zeigt eine gelungene Inszenierung, wirkungsvolle Präsentationen der Lehrkraft, gezielte Hilfen und Unterstützungen, aber auch klare Anleitungen zu Experimenten und eigenem Suchen, Forschen und Erproben. Informationsdarbietung und Informationsverarbeitung sind konsequent verbunden, eigenständiges Denken der Lernenden und Rezeption von Sachinformationen sind aufeinander angewiesen.
Die neuere empirische Lernforschung hat überzeugend belegt, dass zum Erreichen grundlegender Unterrichtsziele verschiedene Methoden mit unterschiedlichen Akzenten eingesetzt und miteinander verbunden werden müssen: direkte Instruktion, offener Unterricht, Projektarbeit, Teamarbeit und individualisiertes selbstständiges Lernen. Vernetzte Wissensstrukturen entstehen durch unterschiedliche methodische und inhaltliche Zugänge zu einem Thema. (Reinmann-Rothmeier/Mandl 1998, Weidenmann 2002) Dabei gibt es methodisch nicht den »Königsweg« für gelingendes Lernen. Weder Gruppenarbeit, Stationenlernen, Wochenplan, Freiarbeit, Projektunterricht noch das Vor-der-Klasse-Stehen als Frontalsituation sind Garanten für den Aufbau von Wissen, Kompetenzen und Motivation. Keine Sozialform allein macht effektiven Unterricht aus.

Die Beiträge dieses Heftes

Nach dieser Hefteinführung mit den Schwerpunkten »Schule und Theater« sowie »integrierter Frontalunterricht« nimmt Dagmar Eichler den Faden auf und belegt, wie wichtig die nonverbale Kommunikation, insbesondere die Körpersprache der Lehrkraft, vor der Klasse ist, auch wenn dies oft als »Nebensache« abgetan wird. Die folgenden beiden Beiträge setzen dann mit praktischen Vorschlägen um, wie die Situation verbessert werden kann, vor der Klasse zu stehen. Vera Kaltwasser berichtet über Forschung und Praxis eines neuen Konzeptes zur Steigerung der Präsenz durch Achtsamkeit und Selbstwahrnehmung, um vor der Klasse zum Ruhepol zu werden. Julia Kosinar belegt mit eigenen Forschungsarbeiten und praktischen Übungsvorschlägen, wie über den Körper Auftrittskompetenzen, emotionale Sicherheit, Stress­abbau und Selbststärkung erreicht werden können. Einen besonders selten zu findenden Akzent setzt dann für die Situation »Vor der Klasse stehen« der Lehrer, Schulleiter, Schauspieler und Regisseur Werner Müller: Er zieht Konsequenzen aus dem Bühnenkonzept des Theaters für die frontalunterrichtliche Situation. Der letzte Beitrag von Sabine Gutzeit greift eine wichtige Dimension auf, die in der gesamten Lehrerausbildung sträflich vernachlässigt wird: Die Lehrerstimme wirkungsvoll einzusetzen und zugleich zu pflegen.
Um es noch einmal zu betonen: Nicht die Situation »Vor der Klasse stehen« wird als methodisches Setting in diesem Heft propagiert, sondern eingebettet in das Konzept eines integrierten Frontalunterrichtes und damit relativiert. Mit diesem Konzept eines integrierten Frontalunterrichtes kann das Vor-der-Klasse-Stehen dann zu dem werden, was Comenius schon im 17. Jahrhundert vorausgesagt hatte: Der Lehrer wird über seine Schüler strahlen wie die Sonne über die Menschheit…

Literatur

Bastian, J. (Hg.) (1987): Vor der Klasse stehen, Lehrerautorität und Schülerbeteiligung. Hamburg

Bastian, J./Combe, A./Langer, R. (2005): Feedback Methoden. Weinheim/Basel, 2.Auflage

Gudjons, H. (2006): Neue Unterrichtskultur – veränderte Lehrerrolle. Bad Heilbrunn

Gudjons, H. (2007): Frontalunterricht – neu entdeckt. Integration in offene Unterrichtsformen. Bad Heilbrunn, 2.Aufl.

Gudjons, H. (2008): Handlungsorientiert lehren und lernen. Bad Heilbrunn, 7. aktualisierte Aufl.

Hausmann, G. (1959): Didaktik als Dramaturgie des Unterrichtes. Heidelberg

Heymann, H.W. (2008): Lernen inszenieren – Interesse wecken. In: PÄDAGOGIK H. 6/2008, S.6–9

Kramer, M. (2008): Schule ist Theater. Baltmannsweiler

Müller, W. (1999): Das Klassenzimmer als Bühne. In: Alltag Schule. Zusammengestellt von S.Rieger. Praxisheft im Domino-Verlag. München, S.91–98

Nölle, B. u.a. (1997): Dreiecksquadrate. Den Lehrsatz des Pythagoras beweisen. In: Berg, H.C./Schulze, T.: (Hg.): Lehrkunstwerkstatt I. Neuwied, S.44–80

Reinmann-Rothmeier, G./Mandl, E.(1998): Wissensvermittlung: Ansätze zur Förderung des Wissenserwerbs. In: Enzyklopädie der Psychologie, Bd. 6, Göttingen, S.457–500

Reinmann-Rothmeier, G./Mandl, H.(2001): Unterrichten und Lernumgebungen gestalten. In: Krapp, A./Weidenmann, B. (Hg.): Pädagogische Psychologie, Weinheim, 4.Aufl., S.601–646

Weidenmann, B. (2002): Gesprächs- und Vortragstechnik. Weinheim

Wiechmann, J. (2002): Frontalunterricht. In: Ders. (Hg.): Zwölf Unterrichtsmethoden. Weinheim, 3.Aufl., S.20–34