Classroom Management – für Lehrer und für Schüler
Wege zur gemeinsamen Verantwortung für den Unterricht
Gerhard Eikenbusch
Effektive Klassenführung oder Classroom Management, diese Begriffe sind für Lehrpersonen – auch durch die Diskussion über guten Unterricht – Verheißung und Last zugleich. Verheißung, weil sie signalisieren, dass die Lehrperson den Unterricht beherrschen kann. Zur Last werden die Begriffe, wenn Unterricht misslingt und einem vorgehalten wird, guter Unterricht sei nur eine Frage des Managements und der Führung durch die Lehrperson …
So lange es den Lehrerberuf gibt, so lange gibt es auch die oft verzweifelte Suche nach dem Königsweg, wie und mit welchen Mitteln der Lehrer in der Klasse seine Aufgabe wirksam, effektiv und erfolgreich erledigen kann. Und mit dem Beginn des öffentlichen Schulwesens im 18. Jahrhundert entstehen auch gleich Handbücher, Ratgeber und Traktate, wie man in der Klasse die Kinder und den Unterrichtsstoff in den Griff bekommt. Manche dieser Bücher sind Ausdruck »schwarzer Pädagogik«, die in der Unterdrückung des kindlichen Willens die einzige Möglichkeit und zentrale Aufgabe der Erziehung sehen. Aus vielen anderen Büchern spricht aber auch Unsicherheit und Ratlosigkeit, wie denn die Arbeit des Lehrers überhaupt halbwegs zu schaffen sei. Gemeinsam ist aber (fast) allen Büchern eine grundlegende Überzeugung: Wenn sich der Lehrer durchsetzt und es ihm gelingt, die Klasse ruhig und diszipliniert zum Arbeiten zu bringen, dann wird sich zwangsläufig auch der Erfolg einstellen – zumindest wird keine Kritik an der Arbeit der Lehrperson aufkommen.
In dieser Überzeugung sind implizit fünf Grundannahmen über Lehrerberuf, Unterricht und die Arbeit in der Klasse enthalten:
Der Lehrer als allein Verantwortlicher – ein Trugbild
Diese Grundannahmen haben sich, so falsch sie auch waren, lange Zeit halten können, immer wieder tauchen sie auch in moderner Verpackung auf. Dass an ihnen festgehalten wird, liegt nicht an fehlender Einsicht derer, die sie vertreten, auch nicht an deren bösem Willen oder Unfähigkeit, sondern es liegt daran, dass dieses Verständnis ausgesprochen funktional ist und hilft, Schwierigkeiten und Widersprüche des Lehrerberufs besser zu ertragen. Das Verständnis vom Lehrer als »allein verantwortlichem Führer und entscheidend Handelndem« der Klasse
Ob ein solches Verständnis von Klassenführung überhaupt angemessen ist und ob es zu den gewünschten Ergebnissen führt, wurde immer wieder diskutiert – aber nur selten genauer untersucht, als Forschungsgebiet liegt es in Deutschland »außerhalb des Mainstreams« (Helmke 2003, 82). Fast eher aus Zufall kommt es Ende der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts zu einer ersten gründlichen Untersuchung von Klassenführung und Steuerung von Unterrichtsprozessen durch die Lehrperson: In einer Feldstudie und experimentellen Untersuchungen über »den Wellen-Effekt bei Disziplinierungsmaßnahmen« in Schulen und Camps, bei der erforscht wurde, ob und wie Zurechtweisungsmethoden (Klarheit, Härte, Festigkeit) einen Wellen-Effekt in der Klasse erzeugen (Konformität, Arbeitsbereitschaft, Anzeichen emotionaler Betroffenheit), musste Jacob S. Kounin (1970) feststellen, dass eine ganze Reihe eingesetzter Maßnahmen nicht zum erwünschten Erfolg führten bzw. dass der Erfolg je nach Schulform sehr unterschiedlich war. Angesichts der eher widersprüchlichen und für die Praxis wenig hilfreichen Ergebnisse untersuchte er in einer zweiten Studie eine ganz andere Perspektive: Er zeichnete Unterrichtsstunden auf und wertete sie aus im Hinblick darauf, welche Handlungen der Lehrperson zu welchem Schülerverhalten (z.B. vollständige Mitarbeit, Unruhe, Lustlosigkeit, Fehlverhalten) führten (Kounin 2006, 76).
Im Vordergrund: die einzelne Lehrperson im geschlossenen Unterricht
Seine Perspektive war also noch sehr stark gerichtet auf die einzelne Lehrperson und auf eine geschlossene Unterrichtssituation. Er fand heraus, dass effiziente Klassenführung (hohe Mitarbeitsrate, geringe Fehlverhaltensrate und geringe Ansteckungsrate bei Störungen der Nachbarn) nicht zuverlässig bzw. gar nicht erreicht wird durch Zurechtweisungen: Es bestünden »keine Zusammenhänge zwischen den Qualitäten der Zurechtweisungsmethoden eines Lehrers und dem Erfolg dieses Lehrers im Umgang mit Fehlverhalten.« (Kounin 2006, 81) Als wirksam und entscheidend für eine gute Klassenführung erkennt er folgende Prinzipien:
Kounins Studie erfährt viel Beachtung und Aufmerksamkeit, sie erscheint 1976 in Deutschland (ein Reprint erscheint 2006) und erreicht zumindest in der Fachwelt eine Differenzierung der Diskussion über Klassenführung. Es geht jetzt nicht mehr länger nur um Fragen der Lehrerpersönlichkeit oder die Frage nach der richtigen Reaktion auf Störungen von Schülern, sondern im Mittelpunkt steht jetzt, wie Lehrpersonen ihren Unterricht so gestalten können, dass Störungen erst gar nicht auftreten und dass das Klassenmanagement reibungslos funktioniert. Das eher reaktive Verständnis von Klassenführung wird proaktiv: Was muss die Lehrperson tun, damit die Schüler die erwünschten Verhaltensweisen zeigen?
Die Lehrperson macht den Unterschied
Dieses neue Verständnis wird auch in Fachliteratur und Lehrerfortbildung aufgegriffen. Die Rede ist nun von Lehrertrainings, von Strategien zur Vermeidung oder Förderung von Lehrerverhalten. Im Prinzip wird dadurch die alte Grundannahme noch verstärkt: Die Lehrperson macht den Unterschied, entscheidend ist, dass sie etwas für Ordnung und Struktur in der Klasse tut (oder lässt). Das führt manchmal zu voreiligen Schlüssen: So werden Lehrkräfte, die häufiger im Unterricht die Schüler kontrollieren, als wirkungsvoller angesehen und positiver beurteilt, obwohl die Leistungen ihrer Schüler schlechter sind als die der weniger kontrollierenden Lehrkräfte (Boggiano/Katz 1991).
Die Forschung und Diskussion über Klassenführung orientiert sich in den Folgejahren bis zur Debatte über »Was ist guter Unterricht« (vgl. Meyer 2004,30 f.) durchweg an Kounins Erkenntnissen und Schlussfolgerungen. In Deutschland weisen Weinert/Helmke (1997) in der SCHOLASTIK-Studie auf die positive Wirkung kontinuierlich ablaufenden, reibungslos und regelhaft gestalteten Unterrichts hin. Klassenführung durch den Lehrer in internationalen Meta-Studien wird als wichtigstes Gütekriterium (Scheerens 1992) bzw. zweitwichtigstes Merkmal guten Unterrichts genannt (Wang/Haertel/Walberg 1993). Wie eine Lehrperson sich in einer Klasse verhält und classroom management versteht, das ist, so betonen diese Studien, von erheblicher Bedeutung für Unterrichtserfolg und Leistungen der Schülerinnen und Schüler.
Dabei finden dann in der Diskussion über die Bedeutung der Klassenführung einerseits Fokussierungen von »Classroom Management« auf »Klare Strukturierung« von Unterricht statt, bei der gutes Unterrichtsmanagement und geschickte didaktisch-methodische Linienführung der Lehrperson für den erhöhten Lernerfolg sorgen sollen (Meyer 2004, 31). Andererseits wird auch das, was unter Klassenführung verstanden wird, gegenüber Kounins Ansatz erweitert, z.B. um den Aspekt kooperativen Managements bei Unterrichtsstörungen (vgl. Lohmann 2003).
Stärkere Anforderungen an Klassenführung – bei schwierigeren Bedingungen
Gleichzeitig mit der Betonung von Klassenführung als entscheidendem Faktor für guten Unterricht werden aber für Lehrkräfte die Schwierigkeiten immer größer, ihre Klasse gut zu führen. Zumindest »gefühlt« sind Unterrichtsstörungen häufiger und schwerwiegender als früher geworden, der Leistungsdruck ist – z.B. wegen zentraler Prüfungen – gewachsen, häufig beeinträchtigen schwierige Lebensumstände die Aufmerksamkeit und die Motivation der Kinder und Jugendlichen für die Schule. Es ist, als säßen die Lehrkräfte in einer Allmacht-Ohnmacht-Zwickmühle: Auf der einen Seite wird ihre Bedeutung als »Manager« der Klasse betont, auf deren Handeln es für den Lernerfolg der Schüler ankommt und die, wenn sie gut ausgebildet sind, die Klasse weit bringen können. Auf der anderen Seite bleibt aber auch der begrenzte Einfluss oder gar die eigene Wirkungslosigkeit, wenn Lehrkräfte nicht so handeln können, wie sie es sollten, da die Situation, die Rahmenbedingungen oder die Probleme der Schüler das nicht zulassen. In dieser Zwickmühle reichen die vier klassischen Strategien der Klassenführung nicht mehr aus:
Denn bei diesen Strategien bleibt nur die Lehrperson die treibende Kraft und gerät an Grenzen, wenn Techniken nicht oder nur kurz wirken, wenn Schülerinnen und Schüler oder Kollegen einfach nicht mitmachen oder wenn schlicht und einfach die Kraft nicht reicht, um all das zu leisten.
Zunehmend wird deshalb in den letzten Jahren »Classroom Management« nicht länger nur als Angelegenheit der einzelnen Lehrkraft gesehen, sondern als Aufgabe von Teams, Jahrgangsstufen oder der Schule. Immer stärker wird erkannt, dass es nicht nur darauf ankommt, als Lehrer für richtiges Verhalten der Schüler zu sorgen oder ein gutes Vorbild zu sein. Es kommt vielmehr darauf an, »Classroom Management« auch zu einer Sache der Klasse zu machen, bei der die Schüler und Eltern nicht nur Betroffene (von Maßnahmen der Lehrer) sind, sondern Beteiligte und Mitwirkende. Es geht um Classroom-Management von Lehrpersonen und Schülern. Es zielt darauf, dass die Klasse auch lernt, sich selbst zu organisieren und zu führen. Das ist möglich, wenn sie
Klassenführung von den Schülern aus gesehen
»Classroom Management« wird so noch stärker proaktiv, weil es Voraussetzungen schaffen soll, dass die Klasse gut lernen und zusammenarbeiten kann und sich selbst managt, und weil es Schülern vermitteln will, wie man das eigene Lernen und Arbeiten sinnvoll steuern und beeinflussen kann.
Diese grundlegende Erweiterung des Verständnisses von Classroom Management ist wesentlich geprägt durch Evertson (2002, 2006a, 2006b). Sie sieht Klassenführung und Steuerung des Unterrichts auch von der Klasse und den Schülern aus, sieht deren Anteil und Möglichkeiten und spricht von »Classroom Management« im lerner-zentrierten Unterricht. Es erfasst vier zentrale Bereiche des Unterrichts:
In allen vier Bereichen gibt es eine Bandbreite möglicher Verhaltensweisen und Strategien von ausschließlich lehrerzentriertem bis hin zu lerner-zentriertem Vorgehen. Evertson plädiert dafür, lerner-zentrierte Vorgehensweisen zu wählen, damit »Classroom Management« auch in der Praxis zu einer Sache von Lehrkräften und Schülern werden kann. Damit Lehrkräfte und Schüler sehen können, wo sie sich auf ihrem Weg zum gemeinsam getragenen Classroom Management befinden, bietet sie ein Instrument zur Selbst- und Fremdeinschätzung der Arbeit in der Klasse an (Abb 1., Evertson 2006)
Überblick über die Beiträge dieses Heftes
Die Beiträge in diesem Heft versuchen, dieses umfassendere Verständnis von Classroom Management aufzugreifen und zu illustrieren, wie dies in der Praxis aussehen könnte. Im ersten Beitrag zeigt John am Beispiel von Unterrichtsprojekten der Jenaplanschule in Jena, wie man durch Planung, Auswahl der Inhalte und Organisation des Unterrichts (jahrgangsübergreifend) dafür sorgen kann, dass eine Notwendigkeit zur Klassenführung auch durch die Schüler entsteht, dass sie lernen, sich demokratisch über den Gang des Unterrichts zu verständigen und ihn mitzutragen. Deutlich wird dabei, wie sehr Classroom Management beim Lernen direkt (und nicht erst bei den Rahmenbedingungen oder reaktiv bei Störungen) ansetzt und hilft, die Lernwege der Schülerinnen und Schüler zu differenzieren und ein demokratisch geprägtes Schüler-Lehrer-Verhältnis zu fördern.
Wie sehr das Leben außerhalb der Klasse prägend ist für das, was dann durch Classroom Management möglich ist, macht der Beitrag von Ehrler/Becker deutlich. Sie schildern, wie durch systematisch auf den Unterricht gerichtete Verbesserung des Klassen- und Schulklimas helfen, dass sich die Jugendlichen einbezogen fühlen und am Unterricht mitwirken – bis hin zur Peer Education, wo die Schule zeigt, dass sie den Schülern Verantwortung überträgt und auf sie setzt.
Classroom Management kann erst dann seine volle Wirkung entfalten, wenn es in den Fachunterricht integriert ist, sich auch im inhaltlichen unterrichtlichen Vorgehen und den Aufgaben widerspiegelt. Anders als im Beitrag von John schildert der Erfahrungsbericht von Eisen, wie einerseits im einzelnen Fachunterricht (Mathematik) Elemente des lerner-zentrierten Classroom Managements umgesetzt werden können – und zwar durch die Folge bestimmter Unterrichtsschritte und die Wahl von geeigneten Arbeits- und Sozialformen. Andererseits macht Eisen auch die Notwendigkeit der Verknüpfung der Bemühungen im einzelnen Fach mit dem Unterricht in der Klasse insgesamt deutlich und zeigt hier realistische (Un)Möglichkeiten der Vernetzung und Einbindung auf.
Eigenmann greift diesen Aspekt in seinem Beitrag auf und betont die Notwendigkeit erzieherischen und didaktischen Klassenmanagements. Mit beidem will er eine engagierte Gegenseitigkeit erreichen, bei der Lehrpersonen wie Schüler einen konstruktiven Umgang mit Lernschwierigkeiten entwickeln können. Entscheidend ist dabei für ihn, proaktiv Voraussetzungen zu schaffen für eine lernfördernde Unterrichtsumgebung.
Ausgehend vom klassischen Thema des Classroom Managements, dem Umgang mit schwierigen Schülern, zeigt Lohmann in seinem Beitrag, dass auch hier ein lerner-zentriertes Vorgehen notwendig ist, wenn man als Lehrperson will, dass auch die Schüler an ihren Schwierigkeiten arbeiten und sich nicht nur – im Guten wie im Schlechten – vom Handeln des Lehrers abhängig machen. Nachhaltigen Erfolg sieht Lohmann beim Classroom Management nur, wenn eine Balance zwischen kontrollierenden und unterstützenden Strategien erreicht wird, Schüler in Klassenführung involviert werden und dabei die Erfahrung machen, dass sie ihr Lernen auch in die eigenen Hände nehmen können.
Schließlich geht Mayr im letzten Beitrag dieses Thementeils auf die Möglichkeiten und Grenzen des Lehrerhandelns im lerner-zentrierten Classroom Management ein und macht insbesondere deutlich, wie abhängig die Verhaltensmöglichkeiten der Lehrperson von der Entwicklung und dem Klima in der Klasse sind. Offensichtlich bedarf es zur Umsetzung einer lerner-zentrierten Klassenführung erst einer hinreichenden Sicherheit im Umgang mit der Klasse und eines grundlegenden Vertrauens in ihre Fähigkeiten. Ob und wie Lehrpersonen dann Classroom Management praktizieren, hängt damit von ihnen selbst und von der Klasse ab.
Literatur
Dr. Gerhard Eikenbusch, Jg. 1952,
ist Schulleiter und Mitglied der Redaktion von PÄDAGOGIK.
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