Schüler beim Aufbau von Kompetenzen unterstützen

Üben, Anwenden, Vertiefen – Gelingensbedingungen für nachhaltiges Lernen

Weshalb ist Üben so wichtig? Und warum ist es in der Regel so wenig beliebt? Was können Lehrerinnen und Lehrer, was Schülerinnen und Schüler tun, um das notwendige Üben und Wiederholen – innerhalb und außerhalb des Unterrichts – effizienter und lustvoller zu gestalten? Worum geht es beim »Anwenden«, worum beim »Vertiefen«, und wie kann beides mit dem Üben auf motivierende Weise verbunden werden?

»Klavierspielen würde ich schon gern können – wenn nur das Üben nicht wäre!« (Stoßseufzer eines musikalisch begabten 11-jährigen Klavierschülers)

Jede(r) von uns hat eine Erfahrung wie die nachfolgend beschriebene wohl schon gemacht: Wir haben etwas, das wir einmal gut beherrschten, lange nicht mehr ausgeübt – eine Sportart (Tennis), das Spielen eines Musikinstruments (oder eines bestimmten Stücks auf ihm), das Sprechen einer Fremdsprache, das Lösen eines mathematischen Problems … . Wenn wir dann versuchen, neu damit zu beginnen, merken wir, dass uns unser früheres Können – zumindest teilweise – verloren gegangen ist: das seinerzeit gut »Eingeübte« steht uns nicht mehr flüssig zur Verfügung, weil wir zu lange auf seine »Ausübung« verzichtet haben. Das kann zunächst frustrierend sein; in der Regel wird es uns jedoch gelingen, uns das Verlorengegangene »wieder« zu »holen«, wenn wir nur motiviert sind, es hinreichend ausdauernd neu zu üben und zu »wiederholen« …

Wenn wir etwas gelernt, uns eine Kompetenz angeeignet haben, so verfügen wir über keinen »Besitz«, den wir einmal erwerben und dann für immer behalten; im Unterschied zu materiellem Besitz kann uns das Gelernte, die Kompetenz, aber auch nicht von anderen gegen unseren Willen entwendet werden. Unser »Tresor«, der es schützt, ist das Ausüben; und erweitern können wir unsere Kompetenz dadurch, dass wir das Gelernte in unterschiedlichen Situationen »anwenden«. Bewusstes Anwenden führt überdies zur »Vertiefung« unseres Wissens und Könnens.

»Anwenden« und »Vertiefen« sind keine pädagogischen oder didaktischen Fachausdrücke im engeren Sinne; in Fachlexika werden sie – anders als der Begriff des »Übens« (z. B. Schaub/Zenke 2007, S. 657 f.; ­Tenorth/Tippelt 2007, S. 723) – in der Regel weder definiert noch erläutert. Im Folgenden werde ich diese drei Begriffe, ihr Verhältnis zueinander, die durch sie beschreibbaren Lernaktivitäten und die Bedeutung dieser Aktivitäten für einen nachhaltigen Kompetenzerwerb genauer betrachten. Erfahrungsgemäß hilft ein didaktisch kluger Einsatz von Angeboten, Anreizen und Aufgaben zum Anwenden und Vertiefen, das für erfolgreiches schulisches Lernen so notwendige Üben aus der »Lustlos-Ecke« des Unterrichts herauszuholen. Leider wird im Regelunterricht das Potenzial des Übens, Anwendens und Vertiefens für den Aufbau tragfähiger Kompetenzen meist gar nicht ausgeschöpft. Dass und wie das konkret im Unterricht für verschiedene Fächer gelingen kann, aber auch, welche Probleme dabei im Auge zu halten sind, zeigen viele praktische und ermutigende Beispiele in den Erfahrungsberichten dieses Heftes.

Üben

Nachhaltiges Lernen ist ohne Üben nicht denkbar. Der Feststellung, dass beim schulischen Lernen die Erfolge oftmals deshalb ausbleiben, weil nicht hinreichend »geübt« wurde, stimmen so gut wie alle Lehrerinnen und Lehrer, aber auch die meisten Schüler und ihre Eltern zu. Doch von dieser richtigen und im Prinzip von allen Beteiligten geteilten Einsicht ist in der Praxis oft nur wenig zu spüren: Wenn man von der vielfach beklagten Nichtverfügbarkeit der erwünschten Lernergebnisse rückschließen darf, wird insgesamt zu wenig, zu ungeplant und zu ineffektiv geübt – innerhalb wie außerhalb des Unterrichts. Und das wiederum mag damit zusammenhängen, dass das Üben, wie oben schon angedeutet, eher zu den lustlos angegangenen Erfordernissen des schulischen Lernens gerechnet, als notwendiges Übel betrachtet wird – von den Lernenden sicher mehr als von den Lehrenden. (Vgl. Heymann 2005)

Üben darf sich nicht in Wiederholungen erschöpfen. Wiederholungen können für sich genommen sehr geistlos erfolgen. Die Erfahrung öder Wiederholungen, die die Schüler, denen sie auferlegt wurden, nicht als für sich persönlich sinnvoll erfahren können, hat gewiss zum verbreiteten schlechten Ruf des Übens mit beigetragen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Selbstverständlich sind Wiederholungen – das bewusste »Wieder(hervor)holen« und die aktive mentale und/oder handlungspraktische Vergegenwärtigung des Gelernten – unverzichtbarer Bestandteil des Übens. Doch genauso, wie die Aufnahme von Informationen noch nicht bedeutet, dass damit etwas Neues nachhaltig gelernt worden ist, ist die bloße Wiederholung (von Fakten oder Handlungsabläufen) noch keine Garantie dafür, dass das zu Lernende anschließend wirklich »beherrscht« wird. Und umgekehrt gilt: Noch die scheinbar schlichteste, auf den ersten Blick lediglich wiederholende Übung kann entscheidende Fortschritte im Können bewirken, wenn sie vom Geist und unbedingten Willen getragen ist, etwas Besonderes zu leisten, etwas zu perfektionieren (etwa beim Chorsingen).

Was ist Üben im Kern? Die folgende Arbeitsdefinition (Heymann 2005, S. 7) halte ich nach wie vor für einen brauchbaren Ausgangspunkt:

»Unter ›Üben‹ seien alle eigenen Aktivitäten verstanden, die mir helfen, neu aufgenommene Informationen, neu erkannte Zusammenhänge und im Prinzip erfasste Abfolgen von Denk- und/oder Handlungsschritten auf eine Weise präsent zu machen, dass ich über sie in Situationen, in denen ich sie brauche, möglichst problemlos (sozusagen ›automatisch‹) verfügen kann. Durch Üben werden also neu angeeignete Wissenselemente und Prozeduren zu anwendbarem Wissen und Können verdichtet. Mit anderen Worten: Als Ergebnis des mit Übung verbundenen Lernens entwickeln sich Kompetenzen.«

Wichtig ist, dass die Formen des Übens sinnvoll auf die angezielten Ergebnisse abgestimmt sind. Die sichere Beherrschung von Vokabeln oder Geschichtszahlen muss auf andere Weise geübt werden als Nachschlagen in einem Wörterbuch, das saubere Zeichnen von Strecken und Kreisen mit Hilfe von Lineal und Zirkel oder das perlend gleichmäßige Spiel einer Tonleiter auf einem Musikinstrument. Und noch ganz anders ist etwa das Übersetzen fremdsprachiger Texte, das Beweisen eines mathematischen Satzes oder das Analysieren eines Gedichts zu üben. Für eine grobe Klassifizierung ist die idealtypische Unterscheidung von drei Zieldimensionen hilfreich (Heymann 1998, S. 8):

  • Aneignung von Wissen in Form von Kenntnissen: Vokabeln, Geschichtszahlen … (»deklaratives« Wissen);
  • Aneignung und Automatisierung von (psychomotorischen oder mentalen) Fertigkeiten: Nachschlagen, exaktes Zeichnen, Tonleitern … (»prozedurales Wissen«);
  • Entwicklung von komplexen Kompetenzen (die meist auf vielfältigen Verbindungen von deklarativem und prozeduralem Wissen beruhen): Übersetzen, Beweisen, Problemlösen, Experimentieren, Texte analysieren … .

Im Rahmen der nachfolgenden begrifflichen Klärungen werde ich des Öfteren auf diese Zieldimensionen zurückgreifen.

Welche Hauptzwecke des Übens lassen sich unterscheiden?

Üben, um dem Vergessen vorzubeugen
Hierbei handelt es sich um den Übungszweck, an den die meisten Lehrenden und Lernenden wohl als Erstes denken. Vor allem in der Zieldimension (1) – für die Aneignung von deklarativem Wissen – sind wir auf ein mit systematischen Wiederholungen verbundenes Einüben zwingend angewiesen. Zugleich sind mit diesem Übungszweck für viele Schülerinnen und Schüler Erfahrungen der Lustlosigkeit und des ermüdenden Drills verbunden. Wie man solche eher unerfreulichen Erfahrungen vermeiden kann, dazu gibt es eine Fülle praktikabler Vorschläge, die von der geschickt eingesetzten »Eselsbrücke« bis zur organisierten Selbstverstärkung bei Erfolg reichen (ausgewählte Empfehlungen werden in den in Abb. 1 u. 2 wiedergegebenen Listen zitiert).

Üben, um zu »automatisieren«
Das Automatisieren ist vor allem für Fertigkeiten anzuzielen, die in Zieldimension (2) fallen. Hier geht es darum, bestimmte Kompetenzen so routiniert und flüssig verfügbar zu machen, dass der Kopf für das Bearbeiten komplexerer Probleme frei ist. Die in Zieldimension (3) thematisierte Entwicklung komplexer Kompetenzen ist auf die Entlastung, die durch die quasi-automatische Verfügbarkeit basaler Fertigkeiten geschenkt wird, zwingend angewiesen. (Die Empfehlungslisten in Abb. 1 und 2 geben auch für das Üben zwecks Automatisierung wertvolle Hinweise.)

Sowohl für die übend-wiederholende Einprägung von Fakten als auch für ein auf die Automatisierung von Fertigkeiten gerichtetes Üben gilt: Je stärker ich mein lernendes Tun in einen für mich sinnvollen Gesamtzusammenhang einbetten kann (oder anders formuliert: für mich mit einem Ziel verknüpfen kann, mit dem ich mich identifiziere, das mir »am Herzen« liegt«), desto eher werde ich bereit sein, mich auf ein konzentriertes und vorübergehend isoliertes Üben und Wiederholen einzelner Elementen einzulassen. Ein solches Üben wird dann eben nicht als »öde« erlebt, sondern als zeitlich begrenzte Phase, die für die Erreichung des übergeordneten und von mir bejahten Ziels sinnvoll und notwendig ist.

Üben im Gebrauch
Längst nicht immer übe ich Gelerntes, um es anschließend (oder irgendwann später) einmal anzuwenden. Üben und anwendendes Ausführen des Gelernten können aber Hand in Hand gehen. Ein gutes Beispiel bietet das Lesen: wenn es Lehrern gelingt, ihre Schüler zum Lesen auch außerhalb des Unterrichts zu motivieren, dann üben diese, indem sie lesen, und nicht, um später zu lesen.

Üben per »trial and error«
Zuletzt sei ein nicht unwichtiger Grenzfall betrachtet: Während beim angeleiteten Lernen, wie es in der Schule und überhaupt in institutionalisierten Bildungssettings der Normalfall ist, das Lernen dem Üben vorausgeht (siehe dazu den Beitrag von Roth in diesem Heft), kennen wir aus vielen »natürlichen« Lernsituationen ein mit dem Neulernen verschmolzenes Üben: ein Baby, das zu krabbeln versucht, ein Kind, das sich selbst das Fahrradfahren beibringen möchte, ein erwachsener Handwerker, der beim Ausführen einer Arbeit auf ein Problem stößt, das mit seinen bisherigen professionellen Handlungsroutinen allein nicht zu lösen ist – in all diesen Fällen ist das Mittel der Wahl ein versuchsweises Herantasten, ein Probieren, bei dem unser weiteres Vorgehen durch den sich einstellenden oder ausbleibenden Erfolg gesteuert wird (»trial and error«). In all diesen Fällen ist es gar nicht sinnvoll, das Üben vom Erstlernen klar abzugrenzen, da es in den entsprechenden Handlungsketten eng miteinander verwoben ist. Zugleich wird übrigens in derartigen Lernsituationen die Grenze zum »Anwenden« verwischt (dazu weiter unten mehr).
In der einschlägigen Literatur wird als Übezweck oft auch die »Qualitätssteigerung« genannt (z. B. Renkl 2000, S. 16 f.; Meyer 2004, S. 104); auf sie werde ich weiter unten im Abschnitt zum »übenden Vertiefen« eingehen.

Anwenden

Was heißt es nun – im Zusammenhang mit schulischem Lernen –, etwas Gelerntes »anzuwenden«? Lernpsychologisch gesehen handelt es sich um nichts anderes als um »Transfer«: Neu Gelerntes, das zunächst meist auf einen engen Sachzusammenhang und wenige Beispiele begrenzt ist, wird auf weitere Wissens- und Könnensfelder übertragen. Doch auch beim Anwenden (beziehungsweise Transfer) können ganz unterschiedliche didaktische Funktionen im Vordergrund stehen. In den folgenden Unterscheidungen werden verschiedene Zwecke herausgestellt, denen das Anwenden dienen kann.

Anwenden, um den Sinn des Gelernten zu erfahren
Eine von Schülern immer wieder gestellte Frage, die von ihren Lehrern oft nicht befriedigend beantwortet wird oder sogar gänzlich unbeantwortet bleibt, ist die nach dem persönlichen Nutzen dessen, was ihnen im Unterricht vorgesetzt wird: »Wozu brauchen wir das eigentlich?« Die Frage beantwortet sich am überzeugendsten und gleichsam von selbst, wenn ich als Schüler die Erfahrung machen kann, dass sich das von mir neu Gelernte, eine neu erworbene Kompetenz also, ganz praktisch »in der Welt bewährt«: Ich löse die neu erworbene Kompetenz gleichsam aus dem Korsett schulischen Lernens heraus und erschließe mir durch sie ein Stück Welt jenseits des unterrichtlichen Lernkontexts.

Anwenden, um zu üben
Eine alte didaktische Erkenntnis: Ich übe etwas, indem ich es anwende. Üben im Rahmen sinnvoller Anwendungen – genauer: von den Schülern für sich als sinnvoll akzeptierter Anwendungen – macht aus der Not des Übens eine »Tugend«. Die Sicherung und Verflüssigung des Gelernten verbindet sich im besten Falle mit der Erfahrung der persönlichen Nützlichkeit.

Allerdings lauert hier eine Gefahr: Allzu oft wird im schulischen Alltag die für sich genommen so einleuchtende didaktische Erkenntnis verkürzt umgesetzt, nämlich verkürzt um die Sinnerfahrung. Geübt wird dann an Beispielen, die der Lehrer zwar »Anwendung« nennt, die aber von vielen Schülern gar nicht als Repräsentanten des »wirklichen Lebens« wahrgenommen werden. Ein Musterbeispiel für eine solche Verkürzung ist das Üben eines neuen Zusammenhangs oder einer neuen Technik im Mathematikunterricht anhand von unrealistischen und lebensfremd erscheinenden Textaufgaben. Im ungünstigsten Fall wird durch solche »didaktisch kastrierten« Anwendungen den Schülern nicht nur das Üben, sondern auch noch das Anwenden vergällt (einer der Gründe, aus denen viele Schüler »Mathe pur« den Sach- und Textaufgaben vorziehen).

Anwenden, um besser zu verstehen
Gute Lehrer haben sich diesen Aspekt des Anwendens schon immer zunutze gemacht, um Verstehen zu fördern: Durch das Anwenden einer neu erworbenen Kompetenz auf ein neues Problem und/oder in einem neuen, prinzipiell für den Transfer geeigneten Sachzusammenhang erweitert sich für die Lernenden oft das Verständnis dessen, was sie neu gelernt haben. Sie bekommen möglicherweise einen neuen Blick auf ihr frisches Können und erfahren, wie es in einem veränderten sachlichen Kontext »funktioniert«. Gerade komplexe Kompetenzen, die man beispielsweise braucht, um literarische Texte zu analysieren, Texte in eine Fremdsprache zu übersetzen oder mathematische Beweise zu führen, steigern durch ihre Anwendung, durch das Ausüben des Gelernten also, meist das Verständnis für das, was da getan wird. – Im Zusammenhang mit dem »Vertiefen« werde ich auf das Verstehen und die Möglichkeiten, es zu fördern, noch einmal ausführlicher eingehen.

Anwenden und Erfolgskontrolle
Der Vollständigkeit halber soll nicht unerwähnt bleiben, dass Lehrer das Anwenden-Lassen gut nutzen können, um den Lernerfolg zu kontrollieren. In diesem Fall dient das Anwenden weniger dem Ziel, das Lernen selbst nachhaltiger zu gestalten, als seine Nachhaltigkeit zu überprüfen. – Schülern hingegen steht mit dem Anwenden des Gelernten ein vorzügliches Mittel zur Verfügung, eine Rückmeldung über den Erfolg des eigenen Lernens zu bekommen (Selbstevaluation).

Vertiefen

Wenn ich Gelerntes »vertiefe«, so verknüpfe ich neue Wissenselemente (Kognitionen) mit bereits vorhandenen – das trifft sowohl auf Kenntnisse (deklaratives Wissen) als auch auf Fertigkeiten (prozedurales Wissen) als auch auf komplexe Kompetenzen zu. Ich binde auf diese Weise das neu Gelernte in ein umfassenderes Netz von Wissen und Fähigkeiten ein. Während Üben und teilweise auch Anwenden »blind« erfolgen kann – d. h. durch mechanisches Wiederholen beziehungsweise durch schematisches Übertragen eines vom Lehrer bereitgestellten Lösungswegs auf eine nur geringfügig variierte Aufgabenstellung –, ist Vertiefen ohne bewusstes Verstehen nicht denkbar. Damit sind wir schon bei der ersten didaktischen Zielsetzung für das Vertiefen.

Vertiefen, um besser zu verstehen
Kognitionspsychologisch gut begründet ist die Aussage, dass immer, wenn Verstehen stattfindet – genauer: wenn jemand subjektiv ein »Verstehenserlebnis« hat –, eine neue Verknüpfung zwischen Wissenselementen (Kognitionen) hergestellt wird. In der Regel wird dabei eine neue Information oder Erfahrung mit vorhandenem Wissen beziehungsweise vorausgehenden Erfahrungen in Beziehung gesetzt. Eine Variante dazu: Zwischen bisher voneinander getrennten Wissenselementen wird eine neue Beziehung gestiftet. Dabei wird häufig nicht nur dem vorhandenen Wissen etwas hinzugefügt, sondern dieses wird im Prozess des Verstehens umstrukturiert.

Konsens besteht in der Verstehensforschung, dass Verstehen mit dem Erleben von Sinn einhergeht. Die geistige Anstrengung, die mit dem Bemühen um Verstehen oft einhergeht, wird von der Suche nach Sinn in Gang gebracht und gehalten.

Ist mir als Lehrkraft daran gelegen, meine Schüler zu einem besseren Verstehen der von mir eingebrachten Unterrichtsinhalte anzuregen, sollte ich also möglichst viele Gelegenheiten bieten und Anreize dafür schaffen, dass sie neue Verknüpfungen mit etwas herstellen, was sie bereits wissen und können.

Vertiefen, um über Gelerntes souveräner zu verfügen
Verstehen hat noch nicht unbedingt zur Folge, dass ich über das Verstandene souverän verfüge, dass ich das neu Verstandene »anwenden« und z. B. ohne Weiteres einsetzen kann, um ganz konkrete Probleme zu lösen. Und darüber hinaus unterliegt – wie alles Gelernte –auch das, was uns im Moment besonders einleuchtend erscheint, der Tendenz zum Vergessenwerden, wenn wir es nicht mehrfach durchdenken, anwenden und damit an der Verstärkung des Ausgangsnetzes arbeiten.

Also auch für die Gewinnung einer souveränen Verfügbarkeit des neu Verstandenen – im Gedächtnis wie in Handlungskontexten – lässt sich das Vertiefen einsetzen, oder noch genauer: ein vertiefendes, auf prinzipiellem Verständnis beruhendes Üben. Ein solches Üben kann seinerseits auch das Verständnis selbst noch einmal weiter vertiefen. Das mit dem Vertiefen verbundene intensive Verankern neuen Wissens und Können mit bereits vorhandenen Kompetenzen lässt sich nicht zuletzt auch für ein Üben fruchtbar machen, das auf Routinierung und Automatisierung zielt. Erfolgreiches professionelles Handeln – egal, ob wir selbstständige Unternehmer, Ärzte, Handwerker, ausübende Musiker oder Spitzensportler in den Blick nehmen – beruht sehr häufig auf der Verbindung von einem grundlegenden Verständnis der berufstypischen Handlungen und Herausforderungen und einer im Alltag enorm entlastenden Handlungsroutine, die den Kopf für die Konzentration auf das erforderliche Tun und das Lösen von Nicht-Routine-Problemen frei macht.

Vertiefendes Üben zur Qualitätssteigerung und Perfektionierung
Eng verwandt mit dem Ziel, über das mit Verständnis Gelernte souverän zu verfügen, ist das, über vertiefendes Üben die Qualität von Kompetenzen zu steigern. Auch hier können wir am Beispiel künstlerischer und sportlicher Profis beobachten, wie das auf höchstem Niveau funktioniert. Wenn im Unterricht vertiefendes Üben zur Qualitätssteigerung eingesetzt werden soll, wäre es verfehlt, sich am Perfektionismus solcher Profis zu orientieren. Was aber durchaus in Ansätzen auf schulische Situationen übertragbar ist, ist die Berücksichtigung des Lustgewinns, der motivierenden Kraft, die vom Erleben des eigenen gesteigerten Könnens ausgeht. Leider kommen im üblichen Unterrichtsalltag die meisten Schüler oft gar nicht so weit, dass sie die beflügelnde Lust, etwas richtig gut zu können, erleben. Ein nicht zu unterschätzendes Problem liegt dabei in der fehlenden Zeit für vertiefende Übungen im Unterricht. Oft werden sie von den Lehrkräften in die Hausarbeiten abgeschoben, für die sich die Kinder und Jugendlichen aufgrund vieler konkurrierender Fächer und Freizeitangebote ebenfalls nicht die Zeit nehmen, die für ein qualitätssteigerndes Vertiefen eigentlich benötigt würde. Die alte pädagogische Weisheit, dass im Zweifelsfall lieber auf Stoff verzichtet werden sollte als auf die Gründlichkeit der Erarbeitung und Einübung, trifft im Blick auf das Vertiefen zur Qualitätssteigerung in besonderem Maße zu.

Zu den Beiträgen des Themenschwerpunkts

Die Autorinnen und Autoren der Erfahrungsberichte zeigen an Beispielen aus verschiedenen Fächern, wie sich das Üben, Anwenden und Vertiefen überzeugend in einen auf Nachhaltigkeit zielenden Fachunterricht integrieren lässt: Timo Leuders für das Fach Mathematik, Cornelia Scherer für Englisch, Dirk Witt für »Kurzfächer« wie Geschichte und Geografie, Barbara Roth für Deutsch und Musik, sie geht dabei insbesondere auf die wichtige Rolle der Motivation ein. Ludger Brüning erläutert, wie sich das Üben und Wiederholen vorteilhaft nach den Grundprinzipien des Kooperativen Lernens gestalten lässt.
Karin Heymanns Erfahrungsbericht macht deutlich, wie sehr auch Lehrer auf Zeit zum Üben und Anwenden angewiesen sind, wenn Leh­rerfortbildung das Handlungsrepertoire von Lehrern nachhaltig bereichern soll.

Literatur

  • Gudjons, H. (2005): Methoden und Strategien intelligenten Übens. In: PÄDAGOGIK H. 11/2005, S. 12 – 15
  • Frey, K. u. a. (1989): Allgemeine Didaktik. Zürich, 3. Aufl.
  • Heymann, H. W. (1998): Üben und wiederholen – neu betrachtet. In: PÄDAGOGIK H. 10/1998, S. 6 – 11
  • Heymann, H. W. (2005): Was macht Üben »intelligent«? In: PÄDAGOGIK H. 11/2005, S. 6 – 11
  • Meyer, H. (2004): Was ist guter Unterricht? Berlin
  • Renkl, A. (2000): Automatisierung allein reicht nicht aus. Üben aus kog­nitionspsychologischer Perspektive. In: Meier, R. u. a. (Hg.) (2000): Üben und Wiederholen (Friedrich Jahresheft XVIII/2000). Seelze, S. 16 – 19
  • Schaub, H./Zenke, K. G. (Hg.) (2007): Wörterbuch der Pädagogik. München
  • Tenorth, H.-E./Tippelt R. (Hg.) (2007): Lexikon Pädagogik. Weinheim/Basel

Dr. Hans Werner Heymann ist Professor (em.) für Erziehungswissenschaft an der Universität Siegen und Redaktionsmitglied von PÄDAGOGIK.
Adresse: Kök 46, 33824 Werther
E-Mail: heymann(at)paedagogik.uni-siegen.de


Aus: Pädagogik 12/2012