Über Unterricht reden

Zur Einführung in den Schwerpunkt

Reden über Unterricht findet in verschiedenen Situationen statt: zwischen Lehrern und Schülern, Mentoren und Praktikanten, Lehrern und Lehrern, Lehrern und anderen pä­dagogischen Berufen, Schulleitungen und Lehrern, Eltern und Kindern. Wie kann das Reden über Unterricht produktiv werden? Welche Hürden sind zu überwinden? Was kann zum Gelingen beitragen? Was sind Besonderheiten und was Gemeinsamkeiten, wenn verschiedene Akteure über Unterricht reden?

Irgendwie reden alle mit

Warum sollte man über Themen sprechen, die einen nicht interessieren oder von denen man nichts versteht? Und so bestimmt sich das Reden über die Dinge und Phänomene dieser Welt nach Kenntnisstand und Interesse. Deutlich wird das beispielsweise, wenn Menschen, die ein bestimmtes Hobby ausüben, miteinander reden: Kajakfahrer fallen nicht ins Wasser, sie »schwimmen«; Walzen sind keine Baumaschinen, sondern gewaltige Wasserumwälzungen an Wehren. Brieftaubenzüchter differenzieren Gefiederfarben wie »gehämmert«, »fahl«, reden von Witwerschaft, »setzen die Tiere« und nennen den Lastwagen »Kabi«. Das Reden präzisiert sich fachsprachlich, je nachdem, wie intensiv wir uns mit einer Sache auseinandersetzen. Und: Nutzt jemand die Fachsprache nicht, outet er oder sie sich als nicht zugehörig zur jeweiligen »Kompetenzgruppe«. Die Sprache setzt damit auch Grenzen und identifiziert Personen, die nicht dazugehören. Bei den Professionen ist dies besonders ausgeprägt: Die Fachsprache bringt Dinge auf den Punkt und bezieht sich auf Definitionen, die alle kennen und die als Konsens akzeptiert sind.

Für Schule und Unterricht sind Lehrerinnen und Lehrer die Professionellen. Bei ihnen liegt folglich das qualifizierte Reden über Unterricht. Und da es sich um eine Profession handelt, sollte man meinen, dass Nicht-Professionelle sich in Zurückhaltung üben, eben weil ihre Kompetenzen hier nicht liegen. Doch wie sieht es mit dem Reden über Unterricht aus? Irgendwie reden da alle mit!
Das hat mit einer Besonderheit dieser Profession zu tun: Durch die Schulpflicht sind alle Bürgerinnen und Bürger in Deutschland ­quasi über mehrere tausend Stunden Zwangshospitierende, und welchen Berufsstand beobachtet man schon über einen solch immensen Zeitraum hinweg? Zugleich sind und waren alle in der Schülerrolle auch Betroffene: Wie Lehrpersonen ihren Beruf ausgeübt haben, wurde zuweilen existenziell erlebt, indem man Lehrpersonen als Vorbild erlebte, von ihrem Wissen und ihrer Kompetenz profitierte und einen Bezug zu ihnen aufbaute oder indem man eine Lehrperson ablehnte, ihre Kompetenz in Zweifel zog und sich von ihr distanzierte. Wie auch immer: Alle sind Langzeitbetroffene und alle haben damit etwas zum Thema Schule und Unterricht zu sagen.

Wie wird das Reden über Unterricht produktiv?

Im Schwerpunkt dieser Ausgabe nehmen wir die verschiedenen Akteure und ihr Reden über Unterricht in den Blick, denn aus Erfahrung wissen wir: Gespräche über Unterricht sind eine Herausforderung und nicht immer sind sie produktiv. Deshalb fragen wir: Welche Ziele verfolgen die Akteure? Wie bzw. wodurch ist das Reden über Unterricht sinnvoll, effektiv, zukunftsfähig und unterstützend für das Leben und Lernen in Schule und Unterricht? Wo sind Hürden zu überwinden und Schwierigkeiten zu meistern? Folgende Gesprächssituationen und Interaktionspartner nehmen die Autorinnen und Autoren in diesem Heft in den Blick:

Gesprächssituation: Unterricht
Gesprächspartner: Schüler und Lehrperson
Intention: Guter Unterricht als gemeinsames Ziel
Als Lehrer oder Lehrerin mit den eigenen Schülern über Unterricht zu reden, scheint auf den ersten Blick einfach, bei näherer Betrachtung jedoch schwierig und auch nicht selbstverständlich. Trotz der Dominanz und Allgegenwärtigkeit von Evaluationen im Schulalltag wie auch in der alltagsweltlichen Lebenswelt, die zuweilen auch als »Kontrollgesellschaft« beschrieben ist (z. B. Bünger et al. 2014), sind vor allem zwei Hürden zu nehmen, die dem Gespräch über Unterricht im Weg stehen: Lehrpersonen haben die Aufgabe zur Leistungsmessung und Leistungsfeststellung und Schülerinnen und Schüler sind interessiert an positiven Rückmeldungen; der Schullaufbahn wegen einerseits, des Selbstwertgefühls andererseits. Auf jeden Fall besteht die Gefahr, dass Lehrpersonen kritische Rückmeldungen im Gespräch über Unterricht negativ verbuchen könnten: Ein Grund für Schüler, ein sozial erwünschtes Antwortverhalten zu zeigen. Die Rückmeldung spiegelt dann die Annahmen der Schüler, was Lehrpersonen gerne bzw. gar nicht hören mögen. Eine der Verhaltensweisen, die zur Schülerkompetenz im Kontext des heimlichen Lehrplans gehört. Die andere Hürde betrifft den Generationenunterschied: die Differenz an Lebensalter und Lebenserfahrung sowie der Umstand, dass die Lehrperson professionalisiert ist für Unterricht. Die Interaktion ist somit auch hierarchisch strukturiert. Wie kann das Reden über Unterricht gelingen, wenn die Rollen, die Lebensalter, die Professionalität dem entgegenstehen? Markku und Hannu Sparwald stellen das Blitzlicht als methodischen Zugang hierfür vor; ein Zugang, der durch seine Ablaufstruktur sowie durch seine vielfältigen Einsatzmöglichkeiten einen ersten Zugang ermöglicht, um mit Schülerinnen und Schülern ins Gespräch über Unterricht zu kommen. Unterrichtsprofis, die mit Schülerfeedback wenig Erfahrungen haben, hilft er, hier erste Schritte zu tun. Eine Vertiefung dieses Zugangs in ritualisierterer Form sowie erste empirische Ergebnisse aus einer Schülerbefragung stellen Alexander Trost und Ilona Esslinger-Hinz vor. Ein PÄDAGOGIK-Schwerpunkt zu Feedback im Unterricht kann diese Beispiele erweitern; er ist erschienen in Heft 4/2014.

Gesprächssituation: Unterrichtsnachbesprechung
Gesprächspartner: Praxislehrpersonen und Praktikanten
Intention: Die Grundlage für produktive Unterrichtsnachbesprechungen legen
Jeder Mentor, jede Betreuungslehrperson, jede Praktikumslehrperson kennt sie: die sogenannte Unterrichtsnachbesprechung. In Prüfungssituationen entscheidet sie mit­hin über die berufliche Zukunft. Unterrichtsnachbesprechungen werden aber auch von einem Teil der Praktikantinnen und Praktikanten als Leistungs- und Bewährungssituation definiert, obwohl es darum geht, erste Erfahrungen zu sammeln, Unterricht fokussiert wahrnehmen zu können, Qualitätsmerkmale zu entwickeln und in Ansätzen umzusetzen. Vorliegende Forschungsergebnisse zeigen, dass die Rechtfertigung des Unterrichts schon bei Studierenden eine dominante Funktion einnimmt; Kreis stellt hierzu fest, dass »das Lernen der Schülerinnen und Schüler, das Lernen der Studierenden selbst und der Fachinhalt dabei eine marginale Rolle« als Gesprächsgegenstände spielen (vgl. Kreis 2012, S. 87). Im Beitrag von Ilona Esslinger-Hinz wird beschrieben, wie Unterrichtsnachbesprechungen zu Lernsituationen werden können. So ist es beispielsweise sinnvoll, wenn Mentorinnen und Mentoren zu Beginn eines Praktikums die Besprechung von Unterricht als Lernsituation definieren und situieren.

Gesprächssituation: Beurteilungsgespräch
Gesprächspartner: Schulleitung und Lehrperson
Intention: Beurteilungen nachvollziehbar rückmelden
Das Reden über Unterricht hat in Beurteilungsgesprächen handfeste und manchmal existenzielle Konsequenzen, denn es geht um laufbahnrechtliche Weichenstellungen (z. B. Verbeamtungen, Funktionsstellen), aber auch um Zulagen bei der Besoldung. Dies macht das Reden über Unterricht und die Akzeptanz der Rückmeldungen zu einer enormen Herausforderung für alle Beteiligten. Bärbel Hetzinger beschreibt ihre Erfahrungen aus der Perspektive der Schulleitung und gibt Hinweise, worauf es in diesem hierarchisch strukturierten Gesprächssetting ankommt, damit die Beurteilung von den Beurteilten verstanden und angenommen werden kann.

Gesprächssituation: Während und au­ßerhalb des Unterrichts
Gesprächspartner: Lehrpersonen, Schul­sozialarbeiter, Sonderpädagogen, Praktikanten
Intention: Gemeinsam Unterricht ver­antworten
Die Kooperation unterschiedlicher Berufsgruppen im Unterricht oder in Situationen, in denen sich Unterricht und andere Aktivitäten (z. B. Förderaktivitäten) ergänzen sollen, ist bekannt aus Ganztagsschulen, Gesamt- und Gemeinschaftsschulen, aber auch im Kontext von Förderschulen (insbesondere mit angeschlossenem Heim) sowie Grundschulen in der Kooperation von Kindergarten und Grundschule. Einführungen in die Grundschulpädagogik benennen immer wieder auch die Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit (z. B. Knörzer/Grass/Schumacher 2007); hierzu zählt insbesondere die eingeschränkte gegenseitige Akzeptanz der Kompetenzen zwischen Erzieherinnen und Erziehern einerseits und Lehrpersonen andererseits. Vor allem die Statusunterschiede, basierend auf der Differenz zwischen Berufsausbildung und Studium generieren Hierarchien in der Kooperation. Ähnliches bildet sich nun im Sekundarbereich ab und das Thema »Teamarbeit« gewinnt auch in der Forschung an Bedeutung, weil insbesondere die Praxis inklusiver Schulen eine Kooperation unterschiedlichster Berufsgruppen erfordert (z. B. Keller-Schneider et al. 2013, Serke/Urban/Lütje-Klose 2014). Diese Situation ist für viele Lehrpersonen in der Sekundarstufe I neu, weil hier über viele Jahre hinweg die Anwesenheit weiterer erwachsener Personen nicht Praxis war. Dies kann Ängste erzeugen, weil Lehrpersonen ihren Unterricht meist selbst sehr kritisch wahrnehmen. Die Zunahme von Ganztagsschulen und Inklusion bringen die Lehrkräfte jedoch in einen Zugzwang, den die einen gerne und aktiv annehmen, dem andere jedoch eher skeptisch folgen. In jedem Fall ist die Kooperation unterschiedlicher Professionen eine Herausforderung; denn die Differenz zwischen grundsätzlicher Zustimmung zu Teamarbeit und deren tatsächlicher Umsetzung löst sich nicht von alleine auf (vgl. Esslinger-Hinz 2002). Im Interview von Katharina Benisch mit A. Rendtorff-Rossnagel, einer Lehrerin, die im inklusiven Unterricht mit Sonderpädagogen, Sozialpädagogen und Lernbegleitern kooperiert, werden Chancen und Herausforderungen dieser gemeinsamen Konstruktion von Unterricht deutlich.

Gesprächssituation: Kollegium
Gesprächspartner: Lehrpersonen
Intention: Unterricht gezielt in einem bestimmten Bereich weiterentwickeln
Wie auch andere Professionen, so haben auch Lehrerinnen und Lehrer das Recht und die Pflicht zur individuellen Gestaltung ihrer Arbeit. Geht man gleichzeitig davon aus, dass es bezogen auf den Unterricht gemeinsame Entwicklungsprozesse geben muss, weil das Erreichen von Erziehungs- und Bildungszielen nur durch Absprachen und verbindliche Vereinbarungen erreicht werden kann, dann ergibt sich daraus ein Spannungsfeld. Wie das Reden über Unterricht in diesem Spannungsfeld gelingen kann, beschreibt Judith Eichstädter in ihrem Beitrag. Auch wenn Forschungsbeiträge zu den Konsequenzen von Evaluationen – insbesondere von externen Evaluationen – ernüchternd sind (vgl. Hosenfeld/Groß Ophoff 2007), so können doch Wege gezeigt werden, wie Evaluationen und Fortbildungen sich auf Schule und Unterricht auswirken können, statt zu einem Ressourcen raubenden Ritual zu »verkommen«.

Gesprächssituation: Zu Hause
Gesprächspartner: Eltern und Kinder
Intention: Konflikte produktiv begleiten
Jeder, der bzw. die Kinder hat, kennt das: Die Berichte über die Schule, die an der Türschwelle zum Elternhaus beginnen und sich beim Mittagstisch fortsetzen – sofern die Kinder berichten; schweigen ist dann aber auch beredt. Dieses Themenfeld ist empirisch kaum bearbeitet, ein Umstand, der vermutlich der Schwierigkeit geschuldet ist, empirische Forschung im Lebensalltag und hier im Privatbereich durchzuführen. Eva Wahl, Diplompädagogin, Realschullehrerin und Mutter von fünf Kindern, widmet sich in ihrem Beitrag diesem Reden über Unterricht außerhalb der Institution Schule und macht deutlich, worauf es auf Elternseite ankommt.

Gesprächssituation: Elternabend
Gesprächspartner: Eltern und Lehrer
Intention: Perspektiven und Erfahrungen mit anderen teilen
Die Schlüsselkontakte zwischen Lehrpersonen und Eltern im Sekundarbereich finden an Elternabenden sowie Elternsprechtagen statt. Im Fokus stehen hier zumeist Fragen zur Leistung und zum Verhalten, das Kennenlernen von Fachkollegen, Informationen über Unterrichtsthemen sowie Informationen über besondere Ereignisse. Was fehlt: das Reden über Erziehung, ein Austausch unter Eltern und mit Lehrern über das Lernen und die Erziehung außerhalb von Schule und Unterricht! Warum ist das so? Der Beitrag von Katja Staudinger und Silke Trumpa begründet die Notwenigkeit und Chancen des Redens über Erziehung und Bildung mit den Eltern und bietet konkrete Vorschläge, Zugänge und Anlässe für einen Austausch über Erziehungsfragen an.

Grundlegendes und Einigendes

Wiewohl die Beiträge in diesem Heft sehr unterschiedliche Akteure und Gesprächssituationen in den Blick nehmen, gibt es doch so etwas wie ein einigendes Band, grundlegende Prinzipien des Redens über Unterricht – unabhängig von der Gesprächssituation, von der Zielsetzung im Gespräch, von den Gesprächspartnern:

  • Wichtig ist, dass der Sinn und Zweck des Redens über Unterricht den Beteiligten klar ist; dass die Partner sich rückversichern, welche Intentionen mit dem Reden über Unterricht verfolgt werden.
  • Wichtig ist, dass das Gespräch in einem anerkennenden, wertschätzenden Rahmen stattfindet; das gilt für alle Gesprächspartner, ob Schülerbeiträge, Sichtweisen von Kollegen; Rückmeldungen von Schulleitungen oder Gespräche mit Praktikanten.
  • Wichtig ist, dass das Reden der Lehrerinnen und Lehrer an professionellen Kriterien orientiert ist; dass es sich also daran ausrichtet, dass jeder Schüler nach seinem Vermögen lernen und sich entwickeln kann.

Literatur

  • Bünger, C./Mayer, R./ Messerschmidt, A./Zizelsberger, O. (Hg.) (2009): Bildung der Kontrollgesellschaft. Analyse und Kritik pädagogischer Vereinnahmungen. Paderborn
  • Esslinger-Hinz, I. (2002): Berufsverständnis und Schulentwicklung: ein Passungsverhältnis. Eine Untersuchung zu schulentwicklungsrelevanten Berufsauffassungen von Lehrerinnen und Lehrern. Bad Heilbrunn
  • Hosenfeld, I./Groß Ophoff, J. (2007): Nutzung und Nutzen von Evaluationsstudien in Schule und Unterricht. Vol. 21, H. 4/2007, S. 352 – 367
  • Keller-Schneider, M./Albisser, S./Wissinger, J. (Hg.) (2013): Professionalität und Kooperation in Schulen. Bad Heilbrunn
  • Knörzer, W./Grass, K./Schumacher, E. (2007): Den Anfang der Schulzeit pädagogisch gestalten. Weinheim und Basel, 6. überarb. u. erg. Aufl.
  • Kreis, A. (2012): Produktive Unterrichtsbesprechungen. Lernen im Dialog zwischen Mentoren und angehenden Lehrpersonen. Bern/Stuttgart/Wien
  • Lortie, D. C. (1975): Schoolteacher. A Sociological Study. Chicago
  • PÄDAGOGIK (2014): Feedback im Unterricht. Schwerpunktthema H. 4 /2014
    Serke, B./Urban, M./Lütje-Klose, B.
  • (2014; im Druck): Personalentwicklung und Inklusion. In: S. Trumpa/E. Franz/I. Esslinger-Hinz: Inklusion – eine Herausforderung für die Grundschule. Baltmannsweiler, S. 242 – 253

Dr. Ilona Esslinger-Hinz ist Diplom-Pädagogin, Realschullehrerin und Professorin für Schulpädagogik an der PH Heidelberg.
Adresse: Keplerstraße 87, 69120 Heidelberg
E-Mail: Esslinger(at)ph-heidelberg.de


Aus: Pädagogik 9/2014