Wie man mit Krisen, Störungen und Konflikten umgehen kann
Mit der Bezeichnung »schwieriger Schüler« ist schon alles gesagt: Wer der Schuldige ist, wer sich ändern muss … Gesucht wird dann nach Patentrezepten oder Radikallösungen, wie man den Schuldigen schnell verändern oder loswerden kann, damit wieder Ruhe herrscht. Aber wie kommt es, dass ein Schüler »schwierig« wird? Wieso entstehen in einer Klasse immer wieder schwierige Situationen? Und was kann helfen?
Stellen Sie sich vor, es gäbe ein Wundermittel, mit dem man in Sekundenschnelle schwierige Schüler zu guten Schülern machen könnte (z. B. eine Tablette, ein Trick). Würden Sie es in Ihrer Klasse benutzen? Was würde Ihrer Meinung nach in der Klasse – und bei Ihnen – passieren, wenn dieses Mittel wirklich wirken würde?
Macht man dieses Gedankenexperiment auf Fortbildungsveranstaltungen für Lehrkräfte, geht in der Regel zuerst spontan ein Aufatmen durch die Gruppe: Gäbe es das Wundermittel, wäre alles wunderbar, »dann könnten wir endlich ungestört Unterricht machen.« Aber schnell setzt dann oft Skepsis ein: Eigenartigerweise ist für viele Lehrkräfte die Vorstellung erschreckend, nur »störungsfreie« Schüler im Unterricht zu haben. Schüler und Eltern reagieren bei diesem Experiment durchweg ähnlich: Auch sie können – und wollen – sich einen Unterricht ohne Störungen beziehungsweise schwierige Schüler nicht vorstellen.
Aber im Schulalltag, wenn es keine kleinen Nachdenkpausen gibt und man unmittelbar reagieren und handeln muss, kommt der Traum von einem Unterricht ohne schwierige Schüler immer wieder auf. Manchmal wird er sogar offen ausgesprochen, meistens aber nur indirekt deutlich, wenn z. B.
Lehrkräfte, die so denken und handeln, vergrößern die Probleme und erreichen das Gegenteil dessen, was sie wollen: Sie machen sich selbst (zumindest für die Schüler) zu schwierigen Lehrern und die Schüler noch »schwieriger«. Von »schwierigen Schülern« zu sprechen, verkürzt also das Problem, da Lehrkräfte durch ihre Reaktion, Überzeugungen und Handeln beeinflussen, wie Schüler sich verhalten. Spricht man stattdessen von »schwierigen Situationen« im Unterricht, ermöglicht dies, den Anteil und die Mitverantwortung der Lehrer zu sehen. Auch Schülern kann es helfen, ihren eigenen Anteil an Problemsituationen zu sehen und anzuerkennen. Es verhindert bei ihnen, eigenes schwieriges Verhalten bloß als unveränderbare Charaktereigenschaft zu entschuldigen (»Ich bin eben so … alle in meiner Familie sind so … Ich habe Asperger …«).
Schwierige Situationen haben eine komplexe Struktur
Von schwierigen Situationen im Unterricht statt von schwierigen Schülern zu sprechen, öffnet den Blick für die Struktur (und damit auch die Bearbeitung) eines Konflikts, einer Störung oder einer Krise. Die Struktur schwieriger Situationen ist insbesondere gekennzeichnet durch
Gespräche über schwierige Situationen konzentrieren sich häufig auf die Personen, deren Anteil am Problem man für besonders groß hält. Die Schuld- oder Verursacherfrage rückt in den Vordergrund, weil man sich von ihrer Beantwortung eine Lösung verspricht.
Analytischen Tunnelblick verhindern
Je einfacher man dabei zu einer Erklärung für das problematische Verhalten kommt, umso größer ist die Gefahr des analytischen Tunnelblicks. Um ihn zu vermeiden, sollte man die schwierige Situation aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten (vgl. Fallbeispiel Abb. 1). Der erste – sehr bedeutsame – Schritt besteht darin, die Relevanz der schwierigen Situation einzuschätzen, und zwar sowohl im Hinblick auf einen selbst wie auch auf die anderen Beteiligten. Nicht jede schwierige Situation ist überhaupt von Bedeutung, manche Konflikte sind so unwichtig, dass sofortiges Reagieren nur eskalierend wirkt. Man sollte den Schweregrad unterscheiden z. B. in Schein-, Rand-, Zentral- und Extrem-Schwierigkeiten (in Anlehnung an Becker 2006). Wenn Lehrkräfte bei jeder schwierigen Situation intervenieren, erschöpfen sie nicht nur sich und die Klasse, sie verstärken das Problem in der Regel auch noch. Wird die Schwierigkeit der Situation als relevant eingeschätzt, sollte im nächsten Schritt eine Analyse erfolgen.
Sie kann sich orientieren am Analyseraster der Strukturmerkale schwieriger Situationen im Unterricht (Abb. 2), das zentrale Elemente und mögliche Ausprägungen erfasst. Gerade bei Elementen, für die es im ersten Zugriff keine Angaben gibt, kann es sich als wichtig erweisen, weitere Informationen einzuholen. Je schwieriger die Situation, umso hilfreicher ist es, Beteiligte, Kollegen und externe Fachleute in die Analyse miteinzubeziehen und sie auch dazu zu nutzen, die Perspektive aller Beteiligten zu erfassen.
Schwierige Situationen sind unvermeidbar und haben (auch) einen Nutzen
Ein wesentliches Kennzeichen schwieriger Situationen im Unterricht ist, dass sie wenigstens für einen der Beteiligten nur schwer auszuhalten und zu bewältigen sind. Wie soll man als Lehrer mit Schülern umgehen, die den Unterricht durch Dazwischenrufen und obszöne Bemerkungen zerstören? Und wie soll man sich verhalten, wenn ein Kind sich selbst verletzt oder ein Lehrerkollege die Klasse durch Beleidigungen so aufbringt, dass in den Folgestunden kein regulärer Unterricht mehr möglich ist?
Es ist angesichts solcher destruktiven Wirkungen verständlich, dass deren Analyse im ersten Angang meist defizitorientiert angelegt ist und gefragt wird: Was ist die Ursache? Wer ist die Ursache? Was hilft gegen die Ursache? Bleibt die Analyse in diesen Fragen stecken, wird sie zur Sündenbocksuche und einem Ruf nach Patentrezepten. Sie gelangt nicht zu einer ressourcenorientierten und lösungsorientierten Perspektive, die darauf angelegt ist, auch das mögliche Entwicklungs- und Veränderungspotential des Verhaltens zu erkennen und zu nutzen.
Viele schwierige Situationen machen – zumindest für einen der Beteiligten – einen Sinn und sind für ihn hilfreich. So kann schwieriges Schülerverhalten in der Klasse für hohe Anerkennung der Gruppe sorgen, Selbstverletzungen die notwendige Aufmerksamkeit und Zuwendung endlich hervorrufen, ein Wutausbruch blockierten Gefühlen zum Ausdruck verhelfen. Schwierige Situationen haben also immer auch für Schüler einen Nutzen. Sie sind notwendig, um sich weiterzuentwickeln, neue Verhaltensweisen auszuprobieren, Grenzen auszutesten, in der Klasse oder Gruppe seinen Platz zu finden oder auf Probleme hinzuweisen. Schwierige Situationen können eine Verunsicherung in der Klasse und bei allen Beteiligten verursachen, die zu einer Neuorientierung beiträgt.
Will man als Lehrer oder im Kollegium entscheiden, wie mit schwierigen Situationen wirksam und produktiv umgegangen werden soll, setzt das voraus, dass man
Wie man als Lehrkraft mit schwierigen Situationen umgeht, z. B. bei destruktivem und respektlosem Verhalten, das ist auch für alle Schüler immer ein Lernfall und ein Vorbild für weiteren Umgang mit Krisen, Störungen und Problemen. Wie nachhaltig diese Erfahrungen wirken, zeigt sich vielfach bei Klassentreffen, bei denen gerade hierüber Erlebnisse und Erfahrungen berichtet und kommentiert werden.
Präventiv und proaktiv statt nur reaktiv
Die Suche nach Handlungsmöglichkeiten in schwierigen Situationen konzentriert sich zuerst auf akute Situation selbst, die bewältigt, beendet oder gelöst werden soll (Abb. 3). Hier geht es um eine wirkungsvolle Reaktion, die deutlich macht:
Die Lehrkraft
Wenn sich die Intervention oder Reaktion einer Lehrkraft nur auf die akute Situation beschränkt, kann dies kurzfristig zwar erfolgreich sein, längerfristig aber problematisch, weil bei neuen schwierigen Situationen immer wieder neu und meist stärker oder anders interveniert werden muss, um sich durchzusetzen. Die Eskalation von Interventionen ist in der Regel gekoppelt mit deren zunehmender Wirkungslosigkeit und Ungeeignetheit.
Stattdessen sollte die Bewältigung akuter Schwierigkeiten genutzt werden für den Aufbau längerfristig wirksamer Verhaltensweisen und Arbeitsformen: Präventive Arbeit bedeutet dabei aber nicht, den Unterricht oder die Schule so zu gestalten, dass keine Störungen mehr auftreten können oder müssen, sondern
Immer wieder gehört zur Prävention schwieriger Unterrichtssituationen auch die Einzelfall-Arbeit: Schüler (oder Lehrkräfte), die ständig stören, benötigen nach Rückmeldungen, Regeln und Zielvereinbarungen auch Hilfen und Trainings, um angemessenere oder verträglichere Formen des nützlichen, aber schwierigen Verhaltens entwickeln zu können. Die präventive Einzelfall-Arbeit würde aber nicht wirken, wenn nicht bei allen Beteiligten, vor allem auch in der Klasse, sichere und unterstützende Bedingungen dafür geschaffen werden, schwieriges Verhalten zu ändern. Einen Erfolg versprechenden Ansatz bietet hierfür das Classroom-Management (vgl. Pädagogik Heft 2/2009). Es zielt darauf, dass eine Klasse lernt, sich selbst zu organisieren und zu führen – auch in schwierigen Situationen (Abb. 4).
Damit sind – neben der Einzelfall-Arbeit – zentrale Elemente eines Unterrichts beschrieben, der präventiv schwierigen Situationen (einschließlich problematischen Schülerverhaltens) begegnen kann.
Beiträge des Heftes
Die Beiträge des Heftes versuchen, diese unterschiedlichen Aspekte des Umgangs mit schwierigen Situationen in der Schule zu erfassen. Sie geben sowohl Anregungen für die – präventive und intervenierende – Arbeit im Klassenraum als auch Hinweise für einen angemessenen Umgang mit schwierigen Situationen in der Schule. Kowalczyk/Zünkler sowie Kriebs konzentrieren sich dabei in ihren Beiträgen auf die Verbesserung beziehungsweise die Reflexion des Handelns der einzelnen Lehrkraft in schwierigen Situationen. Bei Kowalczyk/Zünkler geht es dabei vorrangig darum, die Anteile, die Lehrkräfte selbst an Störungen und Eskalationen im Unterricht haben, zu erkennen und zu bearbeiten. Als hilfreiche Verfahren schildern sie die Reflexion der beruflichen Tätigkeit durch Bewertungen des Ist-Zustandes sowie durch Supervision, kollegiale Fallberatung beziehungsweise die leichter umsetzbare Videoanalyse eigenen Unterrichts. Kriebs beleuchtet die Anteile der Lehrkräfte an schwierigen Situationen im Unterricht aus der Sicht einer externen Beraterin und kommt zu zwölf Selbstverständlichkeiten für das Lehrerhandeln und das Classroom-Management, die schwierige Situationen »entstören« können. Zentral ist dabei für sie die Übernahme von Verantwortung für Beziehungen in der Schule beziehungsweise im Unterricht.
Reiser öffnet in seinem Beitrag den Blick für Angebote und Hilfen schulischer Hilfsdienste. Er schildert, wie Mitarbeiter einer Beratungs- und Unterstützungsstelle an der Inklusion am Regelunterricht mitwirken können und wie sie zeitweilig oder auch ganz die Betreuung von Schülern übernehmen, die immer wieder in schwierige Situationen geraten. Ziel solcher Herausnahme ist zuerst die Entlastung der Klasse und der Schule, aber letztlich wieder die Rückkehr der Schüler. Durch dieses Unterstützungs- und Beratungsangebot können Lehrkräfte ihr eigenes Verhalten steuern und reflektieren, sie erhalten Freiräume und Anregungen, die schwierige Situation wahrzunehmen und aktiv Lösungsansätze zu entwickeln.
Auch im Beitrag von Maaß spielt der Aspekt der Inklusion eine zentrale Rolle – hier im Hinblick auf Kinder mit autistischem Verhalten. Maaß zeigt, wie in Regelklassen für solche Kinder individuelle Zugänge geschaffen werden können, wie ihre Kreativität genutzt und Flexibilität im Unterricht erreicht werden kann. Ausschlaggebend für Inklusion sind für Maaß die entsprechende Betreuung und Qualifizierung der Lehrkräfte wie auch die Vorbereitung und Begleitung der jeweiligen Klassen, in denen autistische Kinder lernen und leben.
Dass Fördermaßnahmen, Trainings und Interventionen für »schwierige« Kinder und Jugendliche stärker als bisher in die Schule insgesamt integriert werden müssen, ist Gegenstand des Beitrages von Ludwigshausen/Böhm über das Hamburger Projekt Cool in School, bei dem sich im Laufe der Zeit eine immer stärkere Vernetzung und Ausweitung in die Schule und ihr Umfeld herauskristallisiert hat. Für Ludwigshausen/Böhm bedeutet die stärkere Einbeziehung des Trainings eine deutlichere Übernahme von Verantwortung durch die Schule, die damit ihren Anteil an der Entstehung und Bearbeitung von schwierigen Situationen anerkennt.
Im abschließenden Beitrag des Thementeils geht Weindel-Güdemann auf die Gruppe ein, die oft vergessen oder nur als ein Ursachen-Faktor angesehen werden, wenn es um schwierige Situationen (und natürlich »schwierige« Schüler) geht: die Eltern. Weindel-Güdemann stellt besonders die Entwicklung belastbarer Beziehungen zwischen Eltern und Lehrkräften heraus. Sie müssten gezielt entwickelt werden, bevor überhaupt Störungen und schwierige Situationen auftreten. Als ein Instrument für den Aufbau solcher Wertschätzung stellt Weindel-Güdemann die Lehrer-Schüler-Eltern-Gespräche (LSEG) vor, die in Rheinland-Pfalz eingeführt wurden.
Literatur
PS
Einen Raum für Fragen, Kommentare und Diskussionsbeiträge finden Sie unter www.redaktion-paedagogik.de.
Gerhard Eikenbusch, Jg. 1952, ist Schulleiter und Redaktionsmitglied von PÄDAGOGIK.
Adresse: Karlavägen 25, 4tr, 11431 Stockholm, Schweden
E-Mail: gerhard.eikenbusch(at)telia.com
Aus: Pädagogik 11/2011