Liebe Leserinnen und Leser,

Zukunft braucht Vergangenheit: Vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention sind die Sonderpädagogik, aber auch die Allgemeine Pädagogik vor große Herausforderungen gestellt. Zur Orientierung für notwendige und angemessene Weiterentwicklungen ist die Rückschau auf das Gewordene hilfreich. Folgt man Jürgen Habermas, darf allerdings diese Rückschau in ihrer Erkenntnisreichweite nicht überschätzt werden. Auf die Frage »Aus der Geschichte lernen?« antwortet er: »Das ist eine jener Fragen, auf die es theoretisch befriedigende Antworten nicht gibt. Die Geschichte mag allenfalls eine kritische Lehrmeisterin sein, die uns sagt, wie wir es nicht machen sollen« (in: Zeitdiagnosen, Frankfurt a. M. 2003). Zeigt uns also die notwendige Rückschau auf die Geschichte der Heil- und Sonderpädagogik, »wie wir es [künftig] nicht machen sollen«? Die Frage so gestellt könnte leicht die Arroganz der später Geborenen und Besserwissenden annehmen. Sie könnte den Blick dafür verstellen, dass es in der Geschichte der Heil- und Sonderpädagogik dank engagierter Bemühungen gelungen ist, den Kreis der nicht als ›bildungsfähig‹ erachteten Kinder immer mehr auszuweiten. So wurde im Zuge der Aufklärung mit ihrem Glauben an die Bildsamkeit des Menschen damit begonnen, zunächst taubstumme und blinde Kinder mit schulischen Bildungsangeboten zu versorgen (gegen Ende des 18. Jahrhunderts), im Verlauf des 19. Jahrhunderts geistigbehinderte Kinder und nach vereinzelten Ansätzen schließlich gegen Ende des 19. Jahrhunderts körperbehinderte Kinder (um einige Behinderungsformen exemplarisch zu nennen).

Allerdings zeigt diese schrittweise Aufnahme von Kindern mit Behinderung in schulische Bildungsangebote auch, dass Kinder, die wir heute als schwer mehrfach oder umfassend behindert bezeichnen, bis in die 1970er-Jahre als ›nicht bildungsfähig‹ von der Möglichkeit schulischer Bildung ausgeschlossen waren. Nicht nur in der Körperbehindertenpädagogik der Weimarer Republik wurden die Rehabilitations- und Bildungserfolge sog. ›Krüppelkinder‹ in der bewussten Abgrenzung von den schwer behinderten sog. ›Siechen‹ und zu deren Lasten besonders hervorgehoben. Auch die Annahme einer prinzipiell universellen Bildsamkeit im Kontext der Aufklärung wurde, wie Christian Lindmeier in seinem Aufsatz in diesem Heft aufzeigt, ab der Mitte des 19. Jahrhunderts mehr und mehr abgelöst durch eine Sichtweise, die von einer pathologischen Störung der Bildsamkeit ausging. Wurde ursprünglich dem behinderten Kind eine prinzipielle Bildsamkeit unterstellt und versucht, diese Unterstellung mithilfe kreativer Praxisangebote einzulösen, zentrierte sich später die Heilpädagogik in Theorie und Praxis auf die Suche nach Problemen und ›Fehlern‹ in den Kindern und die ›Bekämpfung‹ dieser Fehler. Mit der Etablierung des ›Sonderkindes‹ war auch eine Verfestigung der institutionellen Trennung zwischen Sonder- und Allgemeiner Pädagogik verbunden. Hinsichtlich dieser problematischen Entwicklungen kann die Geschichte der Heil- und Sonderpädagogik durchaus eine kritische Lehrmeisterin im Sinne von Habermas sein.

Dies gilt auch für die Allgemeine Pädagogik. Korrespondierend zu den stärker separierenden Entwicklungen in der Sonderpädagogik hat sich die Allgemeine Pädagogik prinzipiell nur um das nichtbehinderte Kind gekümmert, wie Jürgen Oelkers im ersten Beitrag dieses Heftes aufzeigt. Es ist bemerkenswert, wenn er in seiner historische Analyse als Allgemeinpädagoge »zugespitzt« formuliert: »Die Allgemeine Pädagogik gilt nur für die Kinder, die gesellschaftlich als normal und gesund angenommen werden. Alle anderen sind keine ›Zöglinge‹, sondern Sonderfälle« (S. 12). Die Ausblendung des behinderten und benachteiligten, nicht »normgerechten« Kindes gelte, so Oelkers, im Wesentlichen selbst für die Reformpädagogik.

Diese Einschätzung teilt Oelkers mit Michael Wininger, der im vierten Aufsatz des Thementeils der Frage nachgeht, warum sich die akademische Pädagogik, also die wissenschaftliche Allgemeine Pädagogik, zu Beginn des 20. Jahrhunderts schwer tat, Einsichten der sich entwickelnden Psychoanalyse angemessen in ihre Überlegungen aufzunehmen. Die Gründe dafür sieht er in der Tendenz der akademischen Pädagogik, sich als ›Normalpädagogik‹ »für ›schwierige‹ Erziehungssituationen bzw. belastete Entwicklungsbedingungen nicht zuständig zu sehen« (S. 73).

Oelkers plädiert dafür, die historische Entwicklung einer wechselseitigen Abschottung von Allgemeiner und Sonderpädagogik »zu korrigieren und wie von einer einheitlichen Erfahrungswelt so auch von einer einheitlichen Pädagogik auszugehen« (S. 9). Wie diese Korrektur aussehen kann, bedarf des weiteren engagierten Nachdenkens. Dabei wird es darauf ankommen, dass sich in einer wie auch immer gearteten »einheitlichen Pädagogik« das konzeptionelle Knowhow von über zweihundert Jahren systematischer Heilpädagogik sowie personelle und spezifische infrastrukturelle Bedingungen pädagogischer Hilfe für behinderte und benachteiligte Kinder nicht auflösen, sondern weiterentwickeln können.

Bei der Beantwortung der Frage »Aus der Geschichte lernen?« ist auch zu bedenken, dass die historische Rückschau keine objektive Abbildung des Vergangenen sein kann. Sie ist den Vorannahmen des Betrachters und seinen – mitunter unbewussten – methodologischen Vorentscheidungen unterworfen, wie Oliver Musenberg in seinem Beitrag »Zur Methodologie sonderpädagogischer Historiografie« aufzeigt. Ausgehend von »aktuellen Kontroversen sonderpädagogischer Geschichtsschreibung« und einer »kulturgeschichtlichen Thematisierung von Behinderung« (S. 45) insbesondere durch behinderte Menschen selbst setzt sich der Autor mit zentralen geschichtsmethodologischen Fragen auseinander. Die Beschäftigung damit erleichtert es, den Stellenwert der Geschichte der Allgemeinen Pädagogik und der Sonderpädagogik als »kritische Lehrmeisterin« besser einschätzen zu können.

Christian Lindmeier / Hans Weiß