Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

mit dem Schwerpunkt Sexualität nimmt sich das vorliegende Heft einer Thematik an, die nach Jahrzehnten der »Aufklärung« zwar vielfältige Transformationen erfahren hat, aber im Grunde nicht an Brisanz verlor. Einerseits ist die Sexualität zu einem allgegenwärtigen kulturellen Hintergrundrauschen geworden. In einer immer stärker medial geprägten Welt scheint es, als seien alle sexuellen Geheimnisse gelüftet, als gebe es weder Tabus noch verbleibende Schamgefühle. Andererseits kann von umfassend gelungener Befreiung und grenzenloser Lust nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Die Sexualforschung berichtet von einer fast weltweit ansteigenden sexuellen Lustlosigkeit, zunehmenden Funktionsstörungen und einer Erweiterung sexueller Praktiken, mit dem Ziel, die verloren gegangene Spannung doch noch zu retten. Diese Anmerkungen müssen hier genügen. Sie sollten zeigen, dass der erhoffte Triumph der sexuellen Revolution ausblieb, offensichtlich deshalb, weil sich die Sexualität – bei aller gesellschaftlich-kulturellen Formbarkeit – in einem psychischen Innenraum entfaltet, der genuin konfliktreich ist.

Sexualerziehung ist heute in allen Schulformen etabliert. Sie beansprucht Lehrerinnen und Lehrer, sofern sie diese Aufgabe ernst nehmen, mit einer inneren Intensität wie wohl kaum ein anderer schulischer Lernbereich: als Person mit einer eigenen sexuellen Biografie, lustvollen, glückhaften, aber auch enttäuschenden und gebrochenen Erfahrungen, den damit verbundenen Gefühlen und Erwartungen sowie Wert- und Normvorstellungen. Diese Inanspruchnahme ist herausfordernd, anstrengend und beschwerlich. Darin liegt zugleich aber auch eine erhebliche Chance. Sie besteht darin, dass eigene Erwartungen und Vorstellungen zur Sexualität relativiert und nicht unkritisch auf jene Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen übertragen werden, die sich in einer anders gelagerten Lebenssituation befinden – aufgrund von gravierenden sozialen Benachteiligungen oder auch, weil sie behindert sind.

Von solchen Diskrepanzen ist in den beiden ersten Beiträgen die Rede. Gotthilf Gerhard Hiller wirft hoch anregende Schlaglichter auf den sexuellen Habitus von sozial- und bildungsbenachteiligten jungen Frauen und Männern, zum Beispiel (ehemaligen) Schüler/inne/n der Schulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen. Er stellt besondere Merkmale ihres sexuellen Begehrens und Verhaltens heraus und verdeutlicht, wie sie sich lebensgeschichtlich aufgrund der Position und Erfahrungen dieser Menschen im sozialen Raum ausgeformt haben. Eine mehr als nur oberflächliche Kenntnisnahme dieser Formatierung ihres sexuellen Habitus ist die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass zielgruppenangemessene und von Respekt getragene pädagogische Hilfestellungen erfolgen können – auch und gerade dann, wenn die Diskrepanzen zum eigenen sexuellen Habitus beträchtlich sind. Hiller entfaltet dieses Spannungsfeld eindrucksvoll und stellt darüber hinaus Formen einer realitätsnahen sexualpädagogischen Hilfestellung für junge Menschen der unteren Statusgruppen differenziert und anschaulich dar.

Auch Barbara Ortland geht in ihrem Artikel zur Sexualerziehung an Schulen für Körperbehinderte von komplexen Divergenzen zwischen den Lebensbedingungen des pädagogischen Fachpersonals und den Schüler/inne/n aus. Ein wichtiger Faktor, den sie hervorhebt, besteht in dem unterschiedlichen Betroffensein von (körperlichen) Behinderungen, mit zahlreichen Folgen u.a. für Sprache und Kommunikation. Sodann werden die wichtigsten Ergebnisse einer umfangreichen Befragung von Lehrerinnen und Lehrern an Körperbehindertenschulen erläutert und ein daraus abgeleitetes, gesamtschulisches Fortbildungskonzept zur Sexualpädagogik vorgestellt. Prägnant illustriert der Beitrag Ortlands, wie sehr mit der körperbezogenen Arbeit immer auch sexualerzieherische Aspekte transportiert werden. Sie sollen in den Reflexionshorizont gerückt und sensibel beachtet werden, damit es gelingt, vorhandene Mängel zu beheben und die Qualität schulischer Arbeit zu steigern.
Susan Leue-Käding stellt die Elternarbeit in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen und betont die Notwendigkeit einer professionellen Hilfestellung. Die Einbeziehung und Unterstützung der Eltern steht ihres Erachtens in keinem unlösbaren Widerspruch dazu, dass der Entwicklung der Sexualität auch ein trennendes Element zwischen den Generationen innewohnt. Gerade bei behinderten Kindern und Jugendlichen komme es darauf an, dass die durchaus schwierige Balance zwischen Selbstbestimmung und Angewiesensein, Angewiesensein und Selbstbestimmung immer wieder aufs Neue gesucht und gefunden wird. Die Autorin entfaltet diese grundlegenden Überlegungen anhand der sexualpädagogischen Beratung und Begleitung an Förderschulen und entwirft eine eigene sexualpädagogische Konzeption für die gesamte Schule.

Die im Beitrag von Barbara Ortland enthaltenen Hinweise auf die sprachliche Verständigung über Sexuelles, durch eine »kognitive« und »konnotative Sprache«, führen letztlich zu einem zentralen Problem jeglicher Sexualerziehung, insbesondere im schulischen Kontext. Der Frage nämlich, inwieweit ein Sprechen über das Phänomen »Liebe« und »sexuelle Liebe« wirklich gelingen kann. Aus Sicht einer skeptischen Sexualpädagogik stößt die schulische Sexualerziehung hier an eine Grenze. Aber „unterhalb“ dieser Grenze hat Sexualerziehung gerade im Blick auf heranwachsende Menschen in benachteiligten Lebenslagen und mit Behinderung einen hohen pädagogischen Stellenwert. Viel hängt davon ab, inwieweit professionelle Pädagog/inn/en bereit und in der Lage sind, sich auf eine – sicherlich nur begrenzt mögliche – »doppelte reflexive Distanz« einzulassen: gegenüber der eigenen sexuellen Biografie und dem sich entwickelnden sexuellen Habitus von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Die vorliegenden Beiträge geben dazu einige wichtige Anregungen.

Bernd Ahrbeck / Hans Weiß