Liebe Leserinnen und Leser,

Die UN-Behindertenrechtskonvention vom 13.12.2006, die in Deutschland am 26.03.2009 in Kraft getreten ist, hat über den Artikel 24 eine nachhaltige, teilweise kontroverse Diskussion besonders im pädagogischen Bereich bewirkt. Menschen mit Behinderungen dürfen nicht mehr vom allgemeinen Bildungssystem »ausgeschlossen« werden. Es ist ihnen eine volle und gleichberechtigte Teilhabe an Bildung zu ermöglichen. Doch was bedeutet das konkret – inhaltlich wie institutionell?

Der Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 20.10.2011 »Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen« führt diese Gedankengänge konsequent fort. Er löst die »Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen in der Bundesrepublik Deutschland« vom 06.05.1994 ab, die bereits zu nachhaltigen Veränderungen im Sonderschulsystem geführt hatten. Jetzt geht es um Inklusion. Doch was ist damit konkret gemeint?

Es wird deutlich, dass auch die neuen Empfehlungen der Kultusministerkonferenz nur einen Rahmen für weitere Entwicklungen geben können. Es ist zu erwarten, dass die Umsetzung – wieder – je nach Bundesland und parteipolitischer Konstellation unterschiedlich sein wird. Doch wie sieht es im Hinblick auf einzelne Förderschwerpunkte bzw. Störungs- und Behinderungsformen aus?

Im Folgenden soll am Beispiel der Förderschwerpunkte Hören und Sprache erörtert werden, welche spezifischen Aufgabenstellungen und Problembereiche damit verbunden sein können. Einleitend geben Manfred Grohnfeldt und Annette Leonhardt zunächst einen allgemeinen Überblick zu den Merkmalen der UN-Behindertenrechtskonvention, um darauf aufbauend spezifische Merkmale der Integration bei Hörgeschädigten aus den Ergebnissen eines umfangreichen Forschungsprojektes darzustellen sowie das Zusammenwirken von allgemeiner Schule, Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie bei sprachgestörten Kindern und Jugendlichen als Aufgabenstellung zu umreißen.

Im Hinblick auf den Bereich der Sprache entwickelt Christian W. Glück auf der Grundlage eines dimensionalen Modells von Spracherwerbsstörungen ein auf unterschiedliche Zielgruppen ausgerichtetes Vorgehen sprachbezogener Förderung bzw. sprachtherapeutischen Handelns im Sinne eines Mehrebenenmodells.

Aus der Sicht der Hörgeschädigtenpädagogik reflektiert Jürgen Wessel, wie die allgemeine Schule zu einer inklusiven Schule werden kann. Er setzt sich dabei kritisch mit sechs verschiedenen Integrationsmodellen auseinander und erörtert, was jedes Modell für die Inklusion eines hörgeschädigten Schülers bereithält. Im darauf folgenden Beitrag von Gerlinde Renzelberg wird eine Bestandsaufnahme zur aktuellen Inklusionsdiskussion von Hörgeschädigten vollzogen und anschließend versucht, einen Ausblick zu geben. Deutlich wird, wie schwierig eine Debatte um Inklusion für hörgeschädigte Kinder und Jugendliche zu führen ist.

Abschließend geht Otto Speck noch einmal übergreifend auf den Bereich der Inklusion ein, wobei er vor einer vorschnellen »Vollinklusion« warnt und einen evolutionären Prozess der Weiterentwicklung bei einer allmählichen Schwerpunktverlagerung zu inklusiven Beschulungsformen fordert, bei dem der Ausgang »generell offen« sein muss. Ähnlich argumentiert Urs Haeberlin, der auf Lösungswege für unterschiedliche Störungsformen und Behindertengruppen hinweist. Inklusion darf nicht im Sinne einer Nivellierung missverstanden werden.

Insgesamt wird das Primat der Fachspezifität deutlich. Wie in einem Kippbild zeigt sich einerseits die Idee der Inklusion als übergreifender Rahmen, andererseits kann die Umsetzung nur unter Beachtung ganz spezieller Bedingungen erfolgen. Bereits die sich nahe stehenden Förderschwerpunkte Hören und Sprache verdeutlichen, wie unterschiedlich die damit verbundenen Anforderungen sein können. Es ist zu erwarten, dass dies auch für die Förderschwerpunkte Lernen, Sehen, geistige, körperliche sowie emotionale und soziale Entwicklung zutrifft. Fachspezifität sollte ein Merkmal aller weiteren Entwicklungen in der Sonderpädagogik sein. 

Weiterhin wird deutlich, dass die verbundenen Aufgaben nur gemeinsam von der Sonderpädagogik in Kooperation mit der allgemeinen Schule gelöst werden können. Nivellierungen verbieten sich dabei genauso wie Radikallösungen. Das vorliegende Heft möchte für die damit verbundenen inhaltlichen, institutionellen und bildungspolitischen Fragestellungen Impulse zur Weiterentwicklung geben.

Annette Leonhardt / Manfred Grohnfeldt