Liebe Leserinnen und Leser,
die Beiträge des Schwerpunktheftes »Krisenhafte Übergänge« beschäftigen sich mit speziellen Lebens- und Lernsituationen, die sich im sonderpädagogischen Kontext in vielfältiger Form finden. Sie treten bei der Bewältigung von Behinderungen und chronischen Erkrankungen auf, stellen sich infolge schwieriger Übergangsprozesse ein, wie etwa beim Eintritt in das Berufsleben, oder sind durch besondere, mitunter dramatische Lebensumstände bedingt, z. B. den Verlust signifikanter Bezugspersonen oder Kriegs- und Vertreibungserlebnisse. Die äußere Realität spielt dabei eine gewichtige Rolle. Kinder und Jugendliche können von plötzlichen Schicksalsschlägen überrascht und bedroht werden, von unvorhersehbaren und überwältigenden Geschehnissen, aber auch von schleichenden Prozessen und vorhersehbaren Ereignissen, wie unumgänglichen Trennungs- und Ablösungsprozessen. Auch das Eintreten einer Behinderung mag als ein Phänomen erscheinen, das von außen kommt, der Person zunächst fremd ist, selbst dann, wenn es sich im eigenen Körper abspielt. Die damit verbundenen psychischen (wie auch sozialen) Prozesse sind hochkomplex, sie folgen einer inneren Eigendynamik, das zeigen alle Beiträge des Themenschwerpunkts. Dabei entsteht eine auch sonderpädagogisch herausfordernde und anspruchsvolle Situation. Es bedarf einer besonderen Aufmerksamkeit und Sensibiltät für das Innenleben der Betroffen, aber auch für die inneren Bewegungen und Haltungen derer, die sich professionell mit ihnen beschäftigen. Gleichwohl dürfen diese Erkenntnisse nicht im psychologischen Raum verharren: Sie bedürfen einer pädagogischen Transformation, einer Subsumierung unter eine pädagogische Leitidee, damit sie theoretisch gehaltvoll entfaltet und für die praktische Arbeit nutzbar gemacht werden können.
Eva-Maria Glofke-Schulz, die selbst von einer Sehschädigung betroffen ist, setzt sich damit auseinander, wie eine eingetretene Behinderung das Identitätserleben und bisherige Lebensentwürfe erschüttert. Der Versuch, zu »einem sinnerfüllten Lebensentwurf zu finden oder zurückzufinden«, stellt hohe Anforderungen an ein Subjekt, das die Autorin als aktiv handelnd und selbstreflexiv versteht. Auch wenn der Betroffene in erster Linie für sich selbst verantwortlich ist, bedarf er dringend eines anerkennenden Umfeldes, damit Coping- und Reorganisationsprozesse mitsamt ihren unbewussten Anteilen gelingen können. Der dadurch entstehende neue Identitätsentwurf kann positiv zur Weiterentwicklung der Person beitragen und insofern von einigem Gewinn sein. Bedauerlicherweise treffen behinderte Menschen nach wie vor häufig auf eine Umwelt, die ihnen ambivalent, mitunter auch ablehnend gegenübersteht.
Ulrike Fickler-Stang verknüpft theoretische Überlegungen mit einer ausführlichen Falldarstellung. Die über Jahrzehnte weithin anerkannte Entwicklungs- und Identitätstheorie Erik H. Eriksons ist inzwischen auf Kritik gestoßen: Der schnelle gesellschaftliche Wandel erfordere veränderte psychische Fähigkeiten und ein hochflexibles, kontextabhängiges Identitätskonzept, das neue Erfahrungen zügig in sich aufnimmt – so die Vertreter eines neuen Identitätsmodells, der Patchwork-Identität. Dem widerspricht Ulrike Fickler-Stang: Anhand der Lebensgeschichte und der aktuellen Lebenssituation eines psychosozial schwer beeinträchtigten 20-jährigen Mannes zeigt sie, dass gehaltvolle Veränderungen ohne sicheres Fundament nicht gelingen können. Kritische Lebensphasen oder Übergangsprozesse werden beschrieben, auf innere und äußere Bedingungen des Gelingens verwiesen und betont, dass eine »nachholende Entwicklung« die Bewältigung bestimmter Entwicklungsaufgaben unumgänglich voraussetzt.
David Zimmermann analysiert die psychosoziale Situation junger Flüchtlinge, deren persönliche Belastungen sich vielfach mit einer gestörten familiären Kommunikation paaren und in eine stigmatisierend beschriebene gesellschaftliche Realität eingebunden sind. Er plädiert für eine stärkere Aufmerksamkeit und Hinwendung zu der oft hoch belasteten und konflikthaft aufgeladenen Innenwelt dieser Schüler, für eine intensive, professionell geleitete Beschäftigung mit ihrer schulischen Situation und den dort anzutreffenden Beziehungskonstellationen – ohne dass die äußere Realität, lebensgeschichtliche Zusammenhänge und das, was diesen Kindern angetan wurde, aus dem Blick gerät. Zwei Falldarstellungen illustrieren diese Überlegungen.
Der allgemeine Teil dieses Heftes beginnt mit einer Explorationsstudie: Alfred Fries, Jürgen Moosecker und Mathias Grünbauer haben 15 Sonderschullehrer/innen an Schulen mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung darüber befragt, wie sie das Verhalten von Schülerinnen und Schülern mit frühkindlichen cerebralen Bewegungsstörungen (ICP) wahrnehmen. Welche Zusammenhänge sehen sie zwischen schülerspezifischen Verhaltensbesonderheiten einerseits und den (Unterrichts-)Situationen, möglichen Persönlichkeitsmerkmalen, dem Selbstbild und den Lernprozessen dieser Schüler/innen andererseits? Welche Maßnahmen und Handlungsmöglichkeiten erscheinen den befragten Lehrpersonen als sinnvoll? Die Autoren diskutieren die Ergebnisse vor dem Hintergrund erschwerender Bedingungen in der Entwicklung der Motorik, Exploration und Neugiermotivation von Kindern mit ICP und leiten daraus anregende Handlungsorientierungen ab. – Mit der von ihm geleiteten Trommlergruppe »Beatstomper« stellt Dierk Zaiser ein beeindruckendes Rhythmus- und Performanceprojekt vor, dem es gelingt, Jugendliche in sozial benachteiligten Lebenslagen, gesellschaftlicher Marginalität und mit Erfahrungen der Traumatisierung, Demoralisierung und Selbstentwertung nicht nur anzusprechen, sondern mitwirkend einzubeziehen. Exemplarisch wird aufgezeigt, wie Kulturarbeit lebensweltliche Distanz überwinden und Selbstwerterfahrungen im aktiven, verpflichtenden Sich-Beteiligen ermöglichen kann. Das Beispiel eines jugendlichen Migranten und Mitglieds der »Beatstomper« mit dramatischen Fluchterlebnissen spannt nochmals den Bogen zu den »kritischen Übergängen«.
Bernd Ahrbeck / Hans Weiß