Liebe Leserinnen und Leser,
im Themenschwerpunkt dieses Heftes stellen wir Ihnen einige innovative Überlegungen und Ansätze zur pädagogischen Diagnostik vor, die in den vergangen Jahren auf internationaler und nationaler Ebene entwickelt wurden. Die drei Beiträge von Ulrich von Knebel (Kirchgellersen), Reimer Kornmann (Heidelberg) sowie Judith Hollenweger und Reto Luder (Zürich) beschäftigen sich aus unterschiedlicher Perspektive mit der Frage, worin die dringendsten Entwicklungsnotwendigkeiten der gegenwärtigen (sonder-)pädagogischen Diagnostik bestehen, damit sie den Anforderungen einer inklusiven Pädagogik gerecht werden kann.
Um die Diagnostik bzw. das Assessment in inklusiven Schulen insgesamt zu verbessern, hat die European Agency for Development in Special Needs Education (EADSNE) von 2004 bis 2008 ein länderübergreifendes Assessment-Projekt durchgeführt, bei dem von den 23 Teilnehmerländern drei gemeinsame Anliegen für Innovationen im diagnostischen Bereich herausgestellt wurden (vgl. Watson 2007). Demnach kann die Überwachung und Steigerung der Leistung aller Schülerinnen und Schüler (das sogenannte »Assessment des Lernens«) nur ein Schwerpunkt der nationalen Assessment-Strategie zur Sicherung des Rechts auf Zugang zu einer qualitativ hochwertigen Bildung sein. Die beiden weiteren, ebenso wichtigen Schwerpunkte sind
Die einzelnen Beiträge dieses Heftes gehen auf die genannten Themenfelder ein. Ulrich von Knebel sucht in seinem Beitrag einen »Weg zu einer inklusionstauglichen Diagnostik«. Dabei hält er eine sonderpädagogische Professionalität nach wie vor für unerlässlich. Sie soll sich nunmehr vorrangig mit den Grundlagen und der konkreten Umsetzung diagnostischer Schritte beschäftigen, die sich auf die Förderung von Kindern beziehen – und nicht mehr auf deren institutionelle Zuordnung. Nach einer Bestandsaufnahme und einer kritischen Bewertung der gegenwärtigen Gutachtenpraxis werden die Empfehlungen der »Europäischen Agentur zur Entwicklung der Sonderpädagogik« (EADSNE) im Einzelnen dargestellt und im Hinblick auf den Förderschwerpunkt Sprache konkretisiert. Am Ende stehen ein detailliertes Anforderungsprofil und die Erläuterung von zehn Qualitätsmerkmalen pädagogischer Sprachdiagnostik.
Reimer Kornmanns Anliegen besteht darin, Aufgabenbereiche und Fragestellungen einer pädagogischen Diagnostik mit der Unterrichtsgestaltung vor Ort in Beziehung zu bringen (»Inklusiv orientierte Unterrichtsgestaltung und Aufgaben der Pädagogischen Diagnostik«). Er berichtet über die Arbeit in einem Schulversuch an vier Grundschulen, der auf eine Inklusion der zuvor als lernbehindert geltenden Schüler abzielt. Das große Verdienst dieses Beitrages besteht darin, dass er sich intensiv mit didaktischen Konzepten und daraus resultierenden diagnostischen Fragestellungen in der Schuleingangsphase auseinandersetzt. Erst dadurch wird deutlich, wie eine konkrete, auf das jeweilige Kind wie auch auf die Unterrichtssituation bezogene Diagnostik aussehen kann.
Judith Hollenweger und Reto Luder stellen mit den »Züricher Standortgesprächen« ein Verfahren vor, das dem dritten Anliegen der Teilnehmerländer der EADSNE entspricht. Der Kanton Zürich hat vor einigen Jahren im Rahmen der Umsetzung eines neuen Volksschulgesetzes und zur Stärkung der integrativen Ausrichtung der Regelschule ein neues Verfahren zur interdisziplinären Förderplanung eingeführt, das inzwischen in allen Regelschulen des Kantons angewendet wird. Dieses Verfahren orientiert sich an den Lebensbereichen der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Es verzichtet auf eine Diagnosestellung und versteht Förderplanung als einen gemeinsamen Problemlöseprozess. Die bisherigen Erfahrungen der Schulen zeigen, dass das so strukturierte Vorgehen auf der Grundlage der gemeinsamen Sprache der ICF von allen Beteiligten als gewinnbringend erachtet wird.
Der allgemeine Teil beinhaltet eine kritische, von Bernd Ahrbeck und Bernhard Rauh verfasste Analyse zur Pädagogik bei Lernbeeinträchtigungen (»Innere und äußere Armut«), in der für eine stärkere Beachtung intrapsychischer und beziehungsdynamischer Faktoren plädiert wird. Die beiden abschließenden Beiträge beziehen sich wiederum auf das Inklusionsthema: Dagmar-Beatrice Gaedtke-Eckardt beschäftigt sich mit der »Inklusion als Perspektive auf den Sachunterricht«; Christoph Dönges untersucht den »Begriff sonderpädagogischer Förderbedarf und die damit verbundene Praxis im Lichte der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.«
Bernd Ahrbeck / Christian Lindmeier