Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,

in diesem Heft wird das Hauptaugenmerk auf die Lernbehindertenpädagogik bzw. das Lernen als Förderschwerpunkt gerichtet. Bereits die begonnene Aufzählung deutet an, dass hierzu eine erhebliche Begriffsvielfalt mit einem weiten Spektrum an Begriffsinhalten existiert. Man mag darin den Ausdruck einer wohltuenden fachlichen Vielfalt sehen, aber auch ein Zeichen für die erneute Krise eines Faches, das seit seiner Existenz wie keine andere sonderpädagogische Fachrichtung vor Legitimationsproblemen steht. Die einschlägigen fachlichen Kontroversen decken ein entsprechend weites Feld ab: Sie reichen von der Bekräftigung des Begriffs der Lernbehinderung bis zu seiner völligen Ablehnung, vom Erhalt einer eigenständigen sonderpädagogischen Fachrichtung Lernbehindertenpädagogik bis zur Forderung nach ihrer Auflösung und schulstrukturell von der Befürwortung bis zur Infragestellung der Institution Schule/Förderschule für Lernbehinderte.

Unbestritten ist, dass gegenwärtig viele Kinder und Jugendliche Lern- und Entwicklungsprobleme aufweisen, unter anderem deshalb, weil häufig elementare Lernvoraussetzungen zu Schulbeginn nicht mehr gegeben sind. Ganz offensichtlich bestehen stärker als früher Passungsprobleme zwischen der individuellen Ausgangslage der Schüler einerseits und den Lernzielen, Lerninhalten und der didaktisch-methodischen Gestaltung des Unterrichts auf der anderen Seite. Und das nicht nur zu Schulbeginn: Die ungünstigen Voraussetzungen, die Kinder für das schulische Lernen mitbringen, werden durch die Schule nur teilweise kompensiert. Nicht selten verstärken sie sich noch im Laufe der schulischen Entwicklung, so dass sich die Entwicklungsvoraussetzungen immer weiter verschlechtern. Weiterhin nehmen Beeinträchtigungen des Lernens, die erst in der Schule entstehen, einen breiten Raum ein.

Innerhalb dieser Gruppe befindet sich eine erhebliche Anzahl von Kindern, die durch übergroße Lernprobleme schwerwiegend behindert sind. Aufgrund ihrer besonderen Lern- und Lebenssituation sind sie unabdingbar auf eine spezielle sonderpädagogische Förderung angewiesen. Ihre Zukunftschancen hängen entscheidend davon ab, ob ihnen Bildungschancen eröffnet oder ob sie leichtfertig vertan werden. Erschwert wird ihre Lage häufig dadurch, dass sich massive Beeinträchtigungen des Lern- und Leistungsverhaltens mit diversen seelischen Problemen, Verhaltensaufälligkeiten und Besonderheiten der sprachlichen Entwicklung paaren. Mangelhaft entwickelte Lernstrategien und erschwerende intellektuelle Voraussetzungen gehen dabei eine unglückliche Allianz mit psychischen Faktoren im engeren Sinne ein. Etwa geringe Leistungsmotivation, nur schwach ausgeprägter Frustrationstoleranz, starke Selbstzweifel und eine wenig gesicherter Identifikation mit den LehrerInnen als Repräsentanten des Systems Schule. Hinzu kommt vielfach eine problematische Beziehungsgestaltung, die aus der inneren Objektwelt der Kinder resultiert, in der sich die bisherigen Lebenserfahrungen niedergeschlagen haben. Den Hintergrund dafür bietet ein in der Regel wenig privilegiertes Herkunftsmilieu: Mit einer sozial erschwerten Lebenssituation, geringen Zukunftsperspektiven, einer großen Bildungsferne und häufig auch erheblichen psychischen Belastungen in der Familie oder in der Beziehung zu den wichtigsten Bezugspersonen. Verstärkt wird dies nicht selten durch Spannungen zwischen unterschiedlichen Lebenswelten, die für Kinder mit einer Migrationsproblematik typisch sind.

Das Wissen um die Komplexität des Phänomens darf jedoch nicht zu beliebigen Handlungsstrategien führen. Wenn alles möglich ist, weil alles mit allem zusammenhängt, verdunkelt sich der Blick auf das, was Kinder am dringendsten für eine gute Entwicklung brauchen. Differenzarme Modelle einer globalen Förderung helfen hier kaum weiter: Weder bei Schülern, die im Lernen beeinträchtigt oder lernbehindert sind, noch bei Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten, Verhaltensstörungen oder sprachlichen Beeinträchtigungen. Vielmehr muss in jedem einzelnen Fall geklärt werden, welche Probleme im Vordergrund stehen, wie sie sich verstehen lassen, welche schulischen und außerschulischen Veränderungsschritte notwendig sind und welche Organisationsform dem am besten dienen kann. Der sonderpädagogische Förderbedarf stellt zwar nur eine schulische Verwaltungsgröße dar, um die Vergabe von Mitteln zu regulieren. Die in ihm enthaltene fachliche Orientierung gibt aber zumindest eine Richtung an, in die eine Förderung schwerpunktmäßig entwickelt werden muss.

Die Lernbehindertenpädagogik steht gegenwärtig an wichtigen Punkten vor einem erheblichen theoretischen wie praktischen Klärungsbedarf. Die Beiträge des Themenschwerpunktes setzen sich mit einigen dieser Fragestellungen auseinander. Karin Salzberg-Ludwig beschäftigt sich grundlegend mit Beschulungsmöglichkeiten von Kindern, die im schulischen Lernen erheblich beeinträchtigt sind. Unter Einbeziehung nationaler und internationaler Entwicklungen werden Konsequenzen für die Gestaltung von Schule in einer ›postmodernen‹ Gesellschaft vorgestellt. Dagmar Orthmann nimmt sich einer bisher nur wenig bearbeiteten Thematik an, der privaten Lebensführung von Jugendlichen mit Lernbehinderung. Die vorgelegten empirischen Befunde eröffnen einen detaillierten Einblick in die (angestrebte) Bewältigung von Entwicklungsaufgaben, sowohl in der Familie als auch im Hinblick auf eigene Partnerschaften. Dabei stellen sich einige überraschende Ergebnisse ein. Annelie Herzog und Matthias Grünke führen aus, welche besonderen Schwierigkeiten sich für lernbehinderte Kinder beim Fernsehkonsum einstellen können. Probleme entstehen insbesondere dann, wenn die benötigten psychischen Differenzierungsleistungen noch nicht gegeben sind. Abgeschlossen wird der Themenschwerpunkt mit einem durchaus provokanten Beitrag von Dirk Flegel und Joachim Schroeder. Die Autoren plädieren für eine Reduzierung herkömmlicher Bildungsansprüche im Bereich des Rechnens, mit dem Ziel, lernbehinderten Jugendlichen realistischere Möglichkeiten der Lebensbewältigung zu eröffnen.

Bernd Ahrbeck/Ortrud Marsand