Liebe Leserinnen und Leser,
das Kind in seiner Individualität akzeptieren und achten gilt als Grundmaxime einer »Pädagogik der Vielfalt« und damit auch einer sich integrativ bzw. inklusiv verstehenden Didaktik, die der Heterogenität der Kinder nicht durch fiktive Homogenitätskriterien beizukommen sucht, sondern in der »Verschiedenheit der Köpfe« ein bereicherndes Element von Bildungsprozessen sieht. Zweifellos ist Achtung als die Bereitschaft und Fähigkeit, ein Kind so wahrzunehmen, wie es ist, und es darin in seiner einzigartigen Individualität zu respektieren, ein wichtiges erzieherisches und ethisches Gebot. Janusz Korczak, der als Arzt und Erzieher die jüdischen Kinder seines Kinderheimes in Warschau freiwillig in den Tod begleitete, formulierte als eines der Grundrechte von Kindern: Das Kind anzunehmen – so wie es ist.
Gleichwohl bedarf die Maxime der unbedingten Anerkennung – soll sie nicht zur platten Formel werden –, pädagogisch und didaktisch gesehen, einer Ergänzung, nämlich: Annehmen des Kindes nicht nur, wie es ist, in seiner gegenwärtigen Vorfindlichkeit, sondern auch Annehmen des Kindes, wie es werden könnte, in seiner Potenzialität. Innerhalb dieser beiden Pole voll-zieht sich Entwicklung, Bildung und Erziehung. Martin Buber hat dieses Spannungsverhältnis so ausgedrückt: Dem Erzieher ist es »jedesmal um den ganzen Menschen zu tun, und zwar sowohl seiner gegenwärtigen Tatsächlichkeit nach, in der er vor dir lebt, als auch seiner Möglichkeit nach, also was aus ihm werden kann« .
Unbedingte Annahme der Individualität des Kindes als »Ganzes in Wirklichkeit und Potenz« (Buber 1964, 53) bedeutet, Kinder einerseits in ihrer Individualität und Vielfalt achtsam wahrzunehmen, sie aber auch in ihrem Möglichkeitsraum ebenso behutsam herauszufordern, sie vor Zu-Mut-ungen zu stellen. Dieses Spannungsfeld von gegenwärtiger Tatsächlichkeit und künftiger Möglichkeit, in die jeder Lehr-Lernprozess und damit jede Didaktik eingespannt sind, hat gerade eine inklusive Didaktik als fruchtbares Moment zu begreifen. Es heißt vor allem, das individuelle Vorwissen und die spezifischen Vorstellungen jedes Kindes oder Jugendlichen, ihre jeweiligen Bilder von der äußeren und inneren Welt, in der sie leben, im Dialog mit ihnen aufzunehmen und – im Sinne der unterrichtlichen Herausforderung – mit den weiteren Erfahrungs-, Wissens- und Deutungsbeständen der Welt der Menschen in Beziehung zu setzen, also z. B. im Sachunterricht Kinderperspektive(n) und Sachperspektive(n) zu verknüpfen. In Lehr-/Lernprozessen wird das Spannungsfeld von Tatsächlichkeit und Möglichkeit durch die Zone der aktuellen Leistung eines Kindes und die Zone seiner nächsten Entwicklung (Wygotski) markiert.
Das Kind (den Jugendlichen) als »Ganzes in Wirklichkeit und Potenz« mit Respekt wahrzunehmen, heißt auch, konsequenter, als dies oftmals in einer bürgerlich orientierten Integrations- bzw. Inklusionspädagogik geschieht, deren diskrepante individuelle lebensweltliche Bedingungen zum Bezugspunkt didaktischer Reflexion und unterrichtlichen Handelns zu machen, und zwar im Hinblick auf ihre gegenwärtige wie auch ihre potenzielle Lebenssituation in womöglich (wiederum) benachteiligten, marginalisierten Lebenslagen.
In der Konsequenz einer unteilbaren inklusiven Pädagogik und Didaktik liegt es ferner, Kinder und Jugendliche mit komplexen Behinderungen in ihrer »gegenwärtigen Tatsächlichkeit« achtsam wahrzunehmen und in ihren Möglichkeiten herauszufordern. Dafür gibt es ermutigende Erfahrungen im gemeinsamen Unterricht, die – jenseits dogmatischer Vorfestlegungen bezüglich des Förderortes – unter Einsatz didaktischer Kreativität weiter auszubauen sind.
Die beiden Beiträge des Thementeils in diesem Heft befassen sich aus unterschiedlicher Perspektive mit inklusiver Didaktik. Marc Willmann gibt zunächst einen orientierenden Überblick über zentrale Aspekte einer »Integrativen Didaktik als Theorie des gemeinsamen Unterrichts«. Ausgehend von der bereits in frühen Integrationsprojekten gewonnenen Einsicht, dass der Zusammenarbeit der Lehrpersonen in der integrativen Beschulung eine zentrale Bedeutung zukommt, erörtert der Autor sodann Möglichkeiten, Formen und Umsetzungsprobleme des gemeinsamen Unterrichtens (Co-Teaching).
Der zweite Beitrag ist ein gutes Beispiel für die empirische Unterrichtsforschung im Rahmen integrativer bzw. inklusiver Beschulung, die über lange Jahre eher als unterentwickelt gegolten hat. Simone Born referiert darin wesentliche Ergebnisse ihrer Dissertation, einer empirischen Untersuchung des integrativen Unterrichts bei hörgeschädigten Schülerinnen und Schülern in allgemeinen Schulen mit Hilfe von videobasierten Unterrichtsbeobachtungen und nachfolgenden Interviews mit den beteiligten Lehrerinnen und Lehrern. Dabei zeigte sich, dass – abgesehen von der Berücksichtigung schädigungsspezifischer Kriterien, vor allem der Antlitzgerichtetheit – die Beachtung allgemeiner Prinzipien guten Unterrichtens wie z. B. Strukturierung, Lehrersprache und Anschauung zur erfolgreichen Beschulung hörgeschädigter Schüler/innen beiträgt. Zugleich wurden Veränderungen im Sinne qualitätsvollen Unterrichts von den Lehrkräften berichtet, wobei die Bereitschaft zu solchen Veränderungen auch vom Ausmaß der Informationen und Hilfen, die sie erhielten, abhing.
Auch die Beiträge im Allgemeinen Teil des Heftes greifen das Thema Inklusion auf. Auf eigene breite Erfahrungen gestützt, legt Barbara Hürter am Beispiel der rheinland-pfälzischen Schwerpunktschulen dar, dass es nicht genügt, Sonderschullehrer/innen den allgemeinen Schulen nur additiv zuzuordnen. Vielmehr bedarf es einer Weiterentwicklung der Professionalisierung der zusammenarbeitenden Lehrergruppen – mit Konsequenzen für die Lehrerbildung.
Anschließend umreißt Bettina Lindmeier mögliche Auswirkungen der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen auf die Behindertenhilfe. Sie geht dabei auch auf den Artikel 24 Bildung ein und zeigt Weiterentwicklungsmöglichkeiten im Sinne inklusiver Bildung auf.
Annette Leonhardt / Hans Weiß