Auch in Gesellschaften, in denen eine allgemeine Schulpflicht herrscht und ordnungsgemäß überwacht wird, leben Menschen, die Lesen und Schreiben nicht oder nicht richtig gelernt bzw. wieder verlernt haben (Nuissl 1999, S. 550). Diese Erkenntnis hat seit dem Pisa-Schock und der Diskussion um funktionalen Analphabetismus gesteigerte Aufmerksamkeit gefunden, ohne dass derzeit geeignete Konzepte vorliegen, mit denen dieser Herausforderung begegnet werden kann. Insbesondere die Identifizierung betroffener Personen und Gruppen erweist sich als problematisch. Um Analphabeten als solche einzustufen, bedarf es einer Definition. Während man früher - beispielsweise bei der Erhebung 1912 - überprüfte, ob ein Mensch seinen Namen schreiben kann und entsprechend eine enorm geringe Analphabetenquote (unter 0,02?%) feststellte, werden heute feinere Unterscheidungen gemacht (Kleint 2009, S. 22). Die Unterscheidungen zwischen "Analphabetismus" und "eklatanten Schriftsprachdefiziten" ist ein definitorisches Problem, bei dem gesellschaftliche Entwicklungen eine besondere Rolle spielen. In der Wissensgesellschaft, in der lebenslanges Lernen, employability und Selbstregulation die entscheidenden Stichworte zu sein scheinen, reicht es nicht mehr aus, den eigenen Namen, die Unterschrift und einfache Sätze lesen bzw. schreiben zu können. Menschen, die über eine relative "Alphabetisiertheit" verfügen, aber mit den individuellen Schriftsprachkompetenzen den gesellschaftlichen Herausforderungen nicht gewachsen sind und kaum Zugang zur Schriftkultur haben, werden als "funktionale Analphabeten" bezeichnet. Diese Definition ist relational und berücksichtigt nicht ein fixiertes Kompetenzniveau, sondern das Verhältnis zwischen den nötigen und vorhandenen Fähigkeiten. Häufig ist nicht mehr von funktionalem Analphabetismus, sondern von "Illiteralität" (oder Illiteracy) die Rede - als Gegenbegriff zu den in internationalen Kontexten häufig verwendeten Begriffen Literalität bzw. Literacy (Linde 2004, S. 2, Zur Diskussion um Begrifflichkeiten, Definitionen und Abgrenzungen vgl. Kleint 2009). Für die pädagogische Arbeit und die wissenschaftliche Forschung zu diesem Phänomen ergeben sich zwei zentrale Fragestellungen. Erstens: Wie kann man Zugang zu dieser relativ großen "Gruppe" finden, die sich in der Regel durch Selbstisolation unkenntlich macht? Zweitens: Wie kommt es dazu, dass jemand die Schriftsprache nicht beherrscht, obwohl die Schule besucht wird? Beide Fragestellungen sollen anhand einer Fallanalyse in Bezug auf die pädagogische Praxis in Schulen problematisiert werden. Dabei wird es nicht gelingen, zufriedenstellende Antworten zu finden. Vielmehr sollen anhand eines Falles strukturelle Defizite beleuchtet werden. Im Folgenden wird der Fall einer Schülerin (ich nenne sie Pia) dargelegt ausgehend von ihren Erzählungen (Dabei handelt es sich um zwei Gespräche. Im ersten ging es im Schwerpunkt um die Verständigung bezüglich des Schriftsprachproblems, im zweiten um ein biografisches Interview, das nicht auf die eigentliche Problematik beschränkt war) und ergänzt um zwei Gespräche mit ehemaligen Lehrkräften. Auch wenn es sich um einen Einzelfall handelt, besteht hier die Möglichkeit, Defizite im Umgang mit Leistungsrückständen beispielhaft zu verdeutlichen. Dabei handelt es sich um einen von vier Fällen, die innerhalb von zwei Jahren an derselben Schule festgestellt wurden. Diese vier Jugendlichen haben einiges gemeinsam: Man kann nicht lesen bzw. entziffern, was sie schreiben, sie selbst sind kaum bzw. nur mit Mühe in der Lage, einen einfachen Satz zu lesen. Warum wurde ausgerechnet dieser Fall ausgewählt? Erstens: Pia hat einen Abschluss bekommen. Dies ist bemerkenswert und nicht unbegründet. Denn zweitens verfügt sie über außergewöhnliche Fähigkeiten. Auch mit Menschenkenntnis und Erfahrung würde Pias Problem kaum auffallen - zu geschickt sind ihr Auftreten, ihr Sprachgebrauch, ihre Sozialkompetenz und ihre Strategien. Drittens: Durch ihre Narben an beiden Armen denkt man unmittelbar an negative Erfahrungen oder Schicksalsschläge und wird regelrecht vom eigentlichen "Thema" abgelenkt. Viertens: Sie hat keinen Migrationshintergrund. Das Interessanteste an diesem Fall ist fünftens, dass Pia nie eine Hauptschule oder eine Förderschule besucht hat. Das sind die wesentlichen Besonderheiten, die nun weiter ausgeführt werden. -- --
Beitrag
Das deutsche Schulsystem: Unsystematische Diagnostik oder organisierte Verantwortungslosigkeit?
TUP - Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit (ISSN 0342-2275), Ausgabe 3, Jahr 2011, Seite 223 - 228
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