Pressemeldung

Dienstag, 14. August 2012

Behinderung

Die gerade erschienene »Chronik eines Jahrhunderts« erläutert, wie der Begriff der Behinderung entstanden ist und wie sich die Wahrnehmung von Behinderten im 20. Jahrhundert gewandelt hat. Sie zeigt aber auch, welche Entwicklungslinien für ein neues (Selbst-) Verständnis durch die Erfahrungen eines Jahrhunderts angelegt sind.

Wo steht der Behinderungsbegriff heute? Immer noch herrscht die Opferperspektive vor: Behinderte sind in der allgemeinen Wahrnehmung Menschen, die Mitleid, Betreuung und Hilfe brauchen. Auf der anderen Seite stehen aber auch »Helden« wie der Leichtathlet Oscar Pistorius, die die Barrieren mit »über-menschlichen« Kräften bezwingen und erstaunliche Leistungen erbringen. Mit den Lebensrealitäten der allermeisten behinderten Menschen haben beide Vorstellungen wenig zu tun. Sie erweisen sich als Projektion.

Christian Mürner, Behindertenpädagoge und Publizist, und Udo Sierck, langjähriger Aktivist der Behindertenbewegung und Redaktionsmitglied der »Krüppelzeitung«, erzählen die spannende Geschichte einer Minderheit, die vor allem viele entlarvende Aussagen macht über die Haltung, Ideen und Handlungsweisen der sprechenden und definitionsgebenden Mehrheit. Erst gegen Ende des letzten Jahrhunderts gibt es u.a. mit den Disability Studies Ansätze, Behinderte nicht länger als Objekte der Betrachtung wahrzunehmen, sondern als Subjekte, die sich selbst äußern.

Die beiden Autoren berichten von der Zeit im und nach dem Ersten Weltkrieg, als die »Krüppel« aus patriotischen Gründen von den »Schwerbeschädigten« aufgrund einer Kriegs-, Arbeits- oder Unfallverletzung geschieden wurden, von der »Lebensunwert«-Diskussion, die bereits in den 20er Jahren geführt wurde und eine Sterilisations- und Euthanasiepolitik beschreibt, wie sie dann später von den Nazis nicht nur bezogen auf behinderte Menschen grausam durchgeführt wurde.

Die Chronik schildert dann die »Neuanfänge« nach 1945, die nicht immer ganz so neu waren, kommt auf Contergan und Kinderlähmung zu sprechen, die neue Blicke auf die Betrachtungsweise von Behinderten geworfen haben, die Präimplantationsdiagnostik, bis hin zur Integrations- und Inklusionsdebatte seit den 90er Jahren – um nur einige wenige Etappen zu nennen: 100 Jahre Behindertenpolitik, die die Chancen zur Teilhabe und Akzeptanz behinderter Personen bedrohten oder eröffneten.