Wir wissen genau, was gut ist und was schlecht. Zumindest tun wir so: im Beruf, in der Familie und in der Partnerschaft. Und wir handeln danach: effizient, zielgerichtet und eindeutig wollen wir sein. Die strenge Taktung eines erfolgreichen und erfüllten Berufs- und Privatlebens verlangt danach. Das geht gut – eine Weile lang, bis sich die Klarheit eintrübt, Wunden aufbrechen und Widersprüche unüberbrückbar sind.
Die Psychologin und mit dem Wissenschaftsbuchpreis ausgezeichnete Schriftstellerin Lauren Slater hat eine erzählerische Ausdrucksform für sich entdeckt, in der geheime Phantasien, Ängste und Unzulänglichkeiten besonders gut formuliert und Auswege daraus skizziert werden können – sie schreibt Märchen. Denn sie beflügeln die Phantasie und eröffnen Wege außerhalb der konventionellen Grenzen zu denken. In ihnen meldet sich unser Selbst direkt und unverfälscht zu Wort – in all seiner Widersprüchlichkeit.
Entstanden ist mit „Erwachsene brauchen Märchen“ ein Buch, das auf zwei Weisen gelesen werden kann: Einerseits als ein Stück gut geschriebener Literatur, das in schöne und schreckliche, immer auch bizarre Phantasiewelten entführt, in denen Unerlaubtes, Wunderbares und auch Böses den Leser überraschen. Andererseits aber laden die darin versammelten 16 modernen Märchen – ob es eine Neufassung von „Schneewittchen“ aus der Perspektive der Mutter oder die Geschichte einer Meerjungfrau im 21. Jahrhundert ist – Leserinnen und Leser dazu ein, den therapeutischen Ansatz dieses Buch selbst auszuprobieren, um eigene Konflikte und Alltagsängste zu überwinden.
Bei diesem Ansatz, der narrativen Therapie, die die Autorin einführend kurz und sehr verständlich beschreibt, löst sich die erzählende Person und mit ihr die Leserinnen und Leser soweit von ihren Problemen, dass letzere gewissermaßen ein eigenes Leben führen können. Dadurch haben Anwender und Leser die Möglichkeit, Abstand zu gewinnen, sich die Situation aus einer neuen Perspektive anzusehen und die Beziehung zwischen sich und dem Konflikt neu zu beurteilen.