Sabine Reh/Roland Reichenbach
Zukünfte – Fortschritt oder Innovation? Eine Einleitung zum Thementeil
Daniel Tröhler
Tradition oder Zukunft? 50 Jahre Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft aus bildungshistorischer Sicht
Der nachfolgende Beitrag interpretiert die in jüngster Zeit vollzogenen Sezessionsbewegungen innerhalb der DGfE als Ausdruck eines grundsätzlichen Problems, das bereits in der Gründungszeit der Gesellschaft (1964) virulent war und schon damals eine Vorgeschichte hatte. Die übergeordnete These lautet, dass die leitende Ideologie der damaligen DGfE einem Zukunftsverständnis verpflichtet war, das sich maßgeblich aus der idealistischen Tradition nährte. Dadurch grenzte sie vorwiegend außeruniversitäre Akteure der Bildungsreform aus, die sich einem hauptsächlich in den USA entwickelten, expertokratischen Zukunftskonzept verschrieben hatten und sich dabei auf spezifische Psychologiemodelle stützten. Als nach dem Ende des Kalten Krieges die OECD ihre Vision von Schulpolitik und -reform durchsetzen konnte, gelang es dieser vermeintlich traditionsfreien Ideologie pädagogischer Planung, sich auch innerhalb der DGfE zu etablieren. Dies erzeugte allerdings eine eklatante Polarität mit der traditionellen Vorstellung von Bildung – ein Spannungsfeld, das sich nur durch historisch-komparative Analysen konstruktiv lösen lässt.
Schlagworte: Erziehungswissenschaft, Kognitionspsychologie, Behaviorismus, Bildungsplanung, empirische Forschung
Christa Kersting
Wissenschaftspolitik und Disziplinentwicklung. Pädagogik nach 1945 und ihre nationalpolitischen Prämissen
Im Kontext der „Ideen von 1914“ wurde auf der Berliner Kultusministerkonferenz von 1917 Pädagogik als Kulturphilosophie konzipiert und für die Stiftung von Sinn und Einheit der Nation funktionalisiert. Diese Weichenstellung hat die Disziplin bis weit in die Zeit nach NS und Zweitem Weltkrieg geprägt. Die alte Elite (mit den Exponenten Herman Nohl und Eduard Spranger), die in der Weimarer Republik konservativ-revolutionär den NS befördert hatte, installierte sich und die von ihr vertretene Geisteswissenschaftliche Pädagogik nach 1945 neu und beschwor eine Provinzialisierung der Disziplin herauf. Wie sehr sie ihr reflexives und kommunikatives Potential eingebüßt hat, macht in erschreckendem Maße ihr Umgang mit Emigranten deutlich.
Schlagworte: Geisteswissenschaftliche Pädagogik, Emigration, empirisch-experimentelle Pädagogik, „konservative Revolution“, Disziplingeschichte
Monika Buhl
Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft. Zeitperspektive im Jugendalter
Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick der Forschung im deutschsprachigen Raum zu Zeitperspektiven von Heranwachsenden. Zunächst werden die Bedeutung des Konstrukts für die persönliche Entwicklung von Jugendlichen erläutert und theoretische Bezüge und empirische Befunde der vergangenen Jahrzehnte zusammengetragen. Daran anschließend werden das Adolescent Time Inventory (ATI) als multidimensionales Instrument vorgestellt und damit realisierte eigene Befunde berichtet. Zentral hierbei ist die auf latenten Profilanalysen basierende Entwicklung von fünf verschiedenen Zeitperspektive-Typen (positives, balanced, negatives, optimists, ambivalent), die sich sowohl in verschiedenen Stichproben als auch in einer hier präsentierten Studie replizieren lassen und systematische Zusammenhänge mit anderen Dimensionen des ATI aufweisen.
Schlagworte: Zeitperspektive, Zukunftsorientierung, Jugendalter, Jugendtypen, Jugendstudien
Jürgen Straub
Verletzungsverhältnisse – Erlebnisgründe, unbewusste Tradierungen und Gewalt in der sozialen Praxis
Menschen leben in „kollektiven Verletzungsverhältnissen“. Mit diesem sozialtheoretischen Begriff wird die Tatsache fokussiert, dass sich Personen als verletzbare und verletzungsfähige Subjekte begegnen, deren in Dispositionen verfestigte Vulnerabilität auch als Ergebnis erlittener und zugefügter Gewalt in historischen Konstellationen aufgefasst werden kann. Im Anschluss an psychoanalytische Forschungsergebnisse wird das Konzept der transgenerationellen Transmission gravierender (traumatischer) Verletzungen vorgestellt und die Bedeutung von Enactments als einer besonderen Form der unbewussten aktionalen Erinnerung in sozialen Situationen betont. Es wird argumentiert und an Beispielen dargelegt, dass solche und andere Spuren kollektiver Gewalt – auch solche, die bis in frühere Jahrhunderte zurückreichen – in modernen Einwanderungsgesellschaften überaus präsent sind (z. B. in Interaktionen mit politischen Flüchtlingen). In einer normativen Perspektive wird für eine gesteigerte Verletzungssensibilität plädiert, die einen differenzierten, auch symbolische und psychische Formen einbeziehenden Gewaltbegriff voraussetzt. Nach knappen Erläuterungen von zwei in Migrationsgesellschaften wichtigen Modi symbolischer und psychischer Verletzung – der „Dyspräsentation“ und gewissen Formen der Unterlassung, namentlich dem Schweigen – wird abschließend auf die ‚Gefahr‘ eingegangen, durch die zunehmende (wissenschaftliche) Sensibilisierung für Verletzungsverhältnisse eine zwielichtige Tribunalisierung psychosozialer Wirklichkeiten zu befördern.
Schlagworte: Gewalt, Trauma, transgenerationelle Tradierung, Enactment, Vulnerabilität
Morimichi Kato
Humanistic Education in East Asia: With special reference to the work of Ogyu Sorai and Motoori Norinaga
The term “humanistic education” can adopt a range of meanings, varying with the interpretation of “humanistic” or “human.” For this investigation, humanistic education refers to education that emphasizes humanistic studies (studia humanitatis) such as language, literature, and history, which aims to make a human being truly “human.” The basic insight of this education is that, as language is an essential characteristic of humanity, its care and cultivation is crucial in education. This original meaning of humanistic education was developed during the Renaissance. Despite this narrow definition of humanistic education, a similar trend can be found in East Asian traditions, especially in the original teachings of Confucius. In this article, I first discuss the humanistic features of the original Confucian thoughts, as expressed in his Analects (Chapter 1). Second, I consider the significance of a Japanese Confucian scholar, Ogyu Sorai, who developed the Japanese humanistic interpretation of Confucian texts (Chapter 2). This is followed by an examination of the central thoughts of Motoori Norinaga, who transplanted Sorai’s interpretation into the study of classical Japanese literature (Chapter 3). Finally, I consider future dimensions of East Asian humanism by referring to both Sorai and Norinaga (Chapter 4).
Keywords: Humanistic Education, Confucianism, East Asian Education, Aesthetic Education, Hermeneutics
Sigrid Blömeke
Vorsicht bei Evaluationen und internationalen Vergleichen – Unterschiedliche Referenzrahmen bedrohen die Validität von Befragungen zur Lehrerausbildung
Basierend auf der internationalen Vergleichsstudie TEDS-M wird die Validität von Befragungen zur Lehrerausbildung überprüft. Ziel ist zum einen, subjektive Qualitätseinschätzungen zur Ausbildung mit der tatsächlich erreichten Leistung in Zusammenhang zu bringen und so die prädiktive Validität Ersterer zu überprüfen. Zum anderen wird die Gefahr ökologischer Fehlschlüsse nachgewiesen, wenn in Analysen internationaler Daten die falsche Analyseeinheit gewählt wird. In Mehrebenenanalysen mit rund 8 000 angehenden Mathematiklehrkräften der Sekundarstufe I aus 15 Ländern werden vier typische Fragen aus Evaluationsstudien zur Wirksamkeit der Lehrerausbildung mit dem tatsächlich gezeigten mathematischen und mathematikdidaktischen Professionswissen in Beziehung gesetzt. Eine globale Wirksamkeitseinschätzung der Ausbildung weist einen geringen positiven Zusammenhang zum Professionswissen auf. Differenzierten Bewertungen kann dagegen keine prädiktive Validität zugeschrieben werden. Die Ergebnisse mahnen zur Vorsicht, was Schlussfolgerungen zur Lehrerausbildung angeht, die nur auf subjektiven Einschätzungen beruhen. Im internationalen Vergleich müssen zudem die kulturellen Unterschiede zwischen Ländern berücksichtigt werden, da unterschiedliche Referenzrahmen für die Einschätzungen existieren und die erhobenen Konstrukte ihre Bedeutung verändern, wenn sie auf Länderebene aggregiert werden.
Schlagworte: Mehrebenenanalyse, Befragung, Validität, Fehlschluss, Vergleichsstudie
Thilo Schmidt/Wilfried Smidt
Kompensatorische Förderung benachteiligter Kinder – Entwicklungslinien, Forschungsbefunde und heutige Bedeutung für die Frühpädagogik
Der Beitrag befasst sich mit der Frage nach der gegenwärtigen Bedeutung der kompensatorischen Förderung benachteiligter Kinder für die Frühpädagogik in Deutschland. Der kompensatorische Ansatz wird dazu einer Reanalyse unterzogen, indem zunächst seine geschichtliche Entwicklung unter Einbezug grundlegender Kritikpunkte umrissen und anschließend zentrale nationale und internationale Forschungsbefunde zu seiner Wirksamkeit in institutionellen Settings übersichtsartig aufgezeigt werden. Ausgehend davon werden Kriterien effektiver kompensatorischer Förderung dargelegt sowie auf das Potenzial des Ansatzes für die Förderung sozial und bildungsbenachteiligter Kinder in frühpädagogischen Einrichtungen hingewiesen. Vor dem Hintergrund von nach wie vor bestehenden Vorbehalten gegenüber dem kompensatorischen Ansatz in der (Früh-)Pädagogik in Deutschland wird für eine kritisch-konstruktive Betrachtungsweise plädiert.
Schlagworte: kompensatorische Förderung, benachteiligte Kinder, Frühpädagogik, empirische Befunde, heutige Bedeutung
Josef Schrader/Ulrike Jahnke
Die Qualität und der Preis von Weiterbildung: Einflussfaktoren und Zusammenhänge
Die Qualität von Bildung ist in den vergangenen Jahren ein beherrschendes Thema der öffentlichen und auch der wissenschaftlichen Debatte geworden, auch in der Weiterbildung. Selten jedoch wird die Frage nach dem Preis von Weiterbildung thematisiert, noch seltener die Frage nach dem Zusammenhang dieser beiden Merkmale. Trotz des begrenzten Wissens über die Qualität und den Preis von Weiterbildung wurden und werden in der Weiterbildung bildungspolitische Reformstrategien etabliert, die sowohl die Qualität als auch den Preis der Weiterbildung gezielt zu beeinflussen suchen. Dies gilt für die rechtliche Reglementierung, die Professionalisierung und die Qualitätssicherung in gleicher Weise, auch wenn sie je unterschiedliche Handlungsebenen der Weiterbildung (das Gesamtsystem, die Programme, die Organisationen) fokussieren. Vor diesem Hintergrund geht der vorliegende Beitrag in einem mehrebenenanalytischen Untersuchungsdesign, gestützt auf die Inhaltsanalyse von Weiterbildungsangeboten, der Frage nach, wie sich diese Modernisierungsstrategien auf die Qualität und den Preis von Weiterbildung auswirken.
Schlagworte: Steuerung der Weiterbildung, Professionalisierung, Qualitätssicherung, Wirkungsforschung, Mehrebenenanalyse
Manfred Bönsch
Dorit Bosse/Lucien Criblez/Tina Hascher (Hrsg.): Reform der Lehrerbildung in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Teil 1: Analysen, Perspektiven und Forschung.
Dorit Bosse/Klaus Moegling/Johannes Reitinger (Hrsg.): Reform der Lehrerbildung in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Teil 2: Praxismodelle und Diskussion.
Christian Brüggemann
Steven J. Klees/Joel Samoff/Nelly P. Stromquist (Hrsg.): The World Bank and Education. Critiques and Alternatives.
Pädagogische Neuerscheinungen