Thementeil: Schulkultur(en) in historischer Perspektive

Gerhard Kluchert/Thomas Koinzer
Schulkultur(en) in historischer Perspektive. Zur Einleitung in den Thementeil

Gerhart Kluchert
Schulkultur(en) in historischer Perspektive. Einführung in das Thema
 
Marcelo Caruso
Enthemmung als Führungsstrategie. Transformationen der Unterrichtskultur in München an der Wende zum 20. Jahrhundert

Grenzziehung, Klassifikation, die sedative Wirkung eines geordneten Alltags, und – dadurch bedingt – Disziplin, Selbstkontrolle und Hemmung kindlicher Kräfte, zählen zu den grundlegenden Merkmalen westlicher Unterrichtskulturen. Im Laufe der Durchsetzung einer ‚klassischen Moderne‘ hat sich aber auch eine weitere Möglichkeit zur Ausgestaltung der Interaktionen im Unterricht konsolidiert, nämlich diejenige der partiellen Enthemmung dieser Kräfte als Grundlage für eine differenzierte Unterrichtskultur. Aus dieser Perspektive wird kindliche Spontaneität nicht mehr als Problem, sondern viel mehr als eigenständige Ressource unterrichtlicher Ordnungsentwürfe konzipiert. Zum Ende des 19. Jahrhunderts entstand eine starke Strömung innerhalb der lokalen Volksschulpolitik Münchens, welche Enthemmung als Führungsstrategie im Schulalltag favorisierte, sie mit eigens konzipierten Maßnahmen flankierte und in den Schulen ihren wachsenden Einfluss unter Beweis stellte. Die Grundlagen, lokale Wirksamkeit und historische Einordnung von ‚Enthemmung‘ als Strategie bilden den Gegenstand des Beitrags.

Rüdiger Loeffelmeier
Erneuerung der Schulkultur – Programm und Praxis in der Weimarer Zeit

Die Schulpolitik der Weimarer Republik ist nicht zuletzt durch das  Bemühen um eine Veränderung der dominanten Schulkultur gekennzeichnet. Ziel war die Überführung der Fremd- in Selbstbestimmung, die zugleich als Voraussetzung für den Aufbau eines demokratischen Staatswesens betrachtet wurde. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden den Schülern erweiterte Mitbestimmungsrechte eingeräumt und die Unterrichtsmethoden im Sinne der Selbsttätigkeit reformiert; außerdem wurde bei der Neuordnung der Reifeprüfung für eine differenziertere Erfassung der Schülerindividualität Sorge getragen. Die Realisierung dieser Maßnahmen stieß jedoch, wie am Beispiel verschiedener höherer Schulen in Preußen gezeigt werden kann, auf große Schwierigkeiten und zeitigte zum Teil unbeabsichtigte Resultate. Für beides waren einerseits ‚autoritäre‘ Haltungen in Lehrer- und Schülerschaft, andererseits aber auch Mängel bei der Vorbereitung und Durchführung der Reformen verantwortlich.

Thomas Koinzer
Demokratische Schulkultur. Dichotome Perzeption und ihre Funktionalisierung im deutschen Schulreformdiskurs der 1960er-Jahre

Die Implementierung einer ‚demokratischen Schulkultur‘ bildete angesichts wahrgenommener Demokratie-Defizite in der Gesellschaft und speziell in der nachwachsenden Generation ein zentrales Anliegen westdeutscher Schulreformbestrebungen der 1960er-Jahre. Internationale Schulsystemvergleiche und die positive Bezugnahme auf die Schulorganisation, die Partizipationsmöglichkeiten und das Lehr-Lern-Klima in Schulen des Auslands spielten dabei eine prominente Rolle. Am Beispiel der Studienreisen deutscher Bildungsexperten in die USA sucht der Beitrag die Mechanismen und Risiken aufzuzeigen, die derartigen Vergleichen und Rezeptionsprozessen inne wohnen: die Neigung zu dichotomen Konstruktionen und zur diskursiven Funktionalisierung ‚des Auslands‘ wie die in der realen Begegnung sich einstellende Ambivalenz des Urteils.

Hans-Werner Fuchs
Neue Steuerung – neue Schulkultur?

Beginnend etwa Anfang der 1990er-Jahre und seither zunehmend, finden sich Schulen mit einer Vielzahl von Veränderungen konfrontiert, die plakativ unter dem Schlagwort ‚Übergang von der Input- zur Outputsteuerung‘ subsumiert werden. Verkürzend auch als ‚Neue Steuerung‘ bezeichnet, berühren die davon ausgehenden Wirkungen Schule und Unterricht in vielfältiger Weise. Betroffen ist nicht zuletzt jene Dimension, die unter dem Konstrukt ‚Schulkultur‘ gefasst werden kann. Im Anschluss an die analytische Aufschlüsselung des Begriffs Schulkultur (2.) und einer Skizze wesentlicher Elemente Neuer Steuerung (3.) wird exemplarisch gezeigt, inwieweit die Veränderung der Steuerungsverfahren Schulkultur berührt und welche Konsequenzen hieraus resultieren können (4.).

Carola Groppe
Kommentar: Schulkultur zwischen Sozialstruktur und Schulsystem. Zur Unterschätzung der sozialen Problematik individualisierter ‚Schulkultur‘
 

Allgemeiner Teil

Dietmar Langer
Erziehung zur Willensfreiheit. Warum Tadel in der Willenserziehung nicht entbehrt werden kann

Erziehung wird aus der Perspektive von angemessenen Vorwürfen und angebrachten Vorhaltungen betrachtet. Wenn man den freien Willen nicht mehr als ursachenlose Ursache im Sinne eines Erstauslösers deutet, sondern als neuronal und kulturell bedingte Fähigkeit begreift, für verschiedene Gründe zugänglich zu sein und unbehinderte Entschlüsse fassen zu können, kann man durch Tadel – so die These – lernen, willensfrei zu werden und aus Gründen zu handeln. Tadel ist insofern eine Hilfe, dass sich Willensfreiheit überhaupt bilden kann und somit unentbehrlich, denn bevor man sich für einleuchtende Gründe entscheidet, muss man überhaupt aus Gründen handeln und ungehindert entscheiden können.

Jürgen Wiechmann
Gemeinschaftsschule – ein neuer Begriff in der Bildungslandschaft

Der Begriff der Gemeinschaftsschule wird seit einigen Jahren mit zunehmender Häufigkeit als Bezeichnung einer inklusiven Schulform verwendet, die mittlerweile auch schulrechtlich verankert ist. Das Spezifikum dieser Schulform ist jedoch nur sehr unscharf gefasst; vielfach wird der Begriff auch als alternative Bezeichnung für die Gesamtschule verwendet. Der vorliegende Text untersucht die verschiedenen Formen des Verständnisses und identifiziert weitgehend einheitlich verwendete Kernelemente des Begriffs. Diese Kernelemente legen den Schluss nahe, dass mit dem Begriff der Gemeinschaftsschule ein paradigmatischer Wechsel annonciert wird, durch den die gruppierungsorientierte Sicht der Schulpädagogik durch eine Orientierung an individuellen Lernwegen ersetzt wird.

Heinke Röbken
Karrierepfade von Nachwuchswissenschaftlern in der Erziehungswissenschaft

Die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses an Hochschulen ist eines der zentralen bildungspolitischen Reformthemen. In der Erziehungswissenschaft zeichnet sich nach Angaben des jüngsten Datenreports bereits jetzt ein Mangel an zukünftigen Nachwuchskräften ab. Vor diesem Hintergrund präsentiert die vorliegende Studie aktuelles empirisches Datenmaterial zur Personalstruktur und den Karriereverläufen von Professoren und Professorinnen an erziehungswissenschaftlichen Fakultäten. Auf Basis einer Internetrecherche von Alters- und Karrieremerkmalen beschreibt der Beitrag Qualifizierungsverläufe, Kohortenzusammensetzungen und den Personalaustausch zwischen den einzelnen erziehungswissenschaftlichen Fakultäten. Zudem werden die Daten netzwerktheoretisch ausgewertet, um die akademische Mobilität von Erziehungswissenschaftlern zu analysieren. Die Studie ergänzt bestehende Makro-Analysen zur Struktur und Entwicklung der Erziehungswissenschaft mit organisationsbezogenen Daten und liefert damit den Angehörigen der Disziplin verlässliche Befunde zur Situation der Erziehungswissenschaft an den Hochschulen.

 

Besprechungen

Jürgen Oelkers
Bernhard Bueb: Von der Pflicht zu führen

Helga Bleckwenn
Friedrich Paulsen: Aus meinem Leben

Jörg Fischer

Christiane Schiersmann/Heinz-Ulrich Thiel: Organisationsentwicklung

 

Dokumentation

Erziehungswissenschaftliche Habilitationen und Promotionen 2008

Pädagogische Neuerscheinungen