Marcelo Caruso/Patrick Ressler
Zweigliedrigkeit: Strukturwandel des Schulsystems?
Einführung in den Thementeil
Klaus Hurrelmann
Das Schulsystem in Deutschland: Das „Zwei-Wege-Modell“ setzt sich durch
Im Zusammenhang mit der Diskussion über das Für und Wider des dreigliedrigen Schulsystems in der Bundesrepublik machte der Autor dieses Artikels in den 1970er Jahren den Vorschlag, Haupt-, Real- und Gesamtschulen zu integrierten Sekundarschulen zusammenzufassen, mit eigenen Oberstufen auszustatten und dem Gymnasium gleichzustellen. Dieser Artikel zeichnet die wissenschaftliche und politische Diskussion zu diesem „Zwei-Wege-Modell“. Die Analyse zeigt, dass nach anfänglicher vehementer Ablehnung im Zuge der Vereinigung der beiden deutschen Staaten eine schrittweise Annäherung an das Modell erfolgte. Die Gründe werden unter anderem in der Stärkung der international ausgerichteten empirischen Bildungsforschung und dem dadurch entstandenen Druck gesehen, Bildungsgerechtigkeit herzustellen. Hinzu kommen gestiegene Qualifikationsanforderungen sowie demografische Faktoren. Es wird die These vertreten, dass es sich hierbei um unumkehrbare Entwicklungstrends handelt und sich das Zwei-Wege-Modell mittelfristig in allen 16 Ländern durchsetzen wird.
Schlagworte: Zwei-Wege-Modell, dreigliedriges Schulsystem, Gesamtschule, integrierte Sekundarschule, Bildungsforschung
Bernd Zymek
Die Zukunft des zweigliedrigen Schulsystems in Deutschland
Was man von der historischen Schulentwicklung dazu wissen kann
In dem Beitrag wird die Frage diskutiert, welche Aufschlüsse aus dem historischen Prozess der Durchsetzung und Auflösung des dreigliedrigen Schulsystems in den deutschen Ländern während der letzten 150 Jahre für die Zukunft eines zweigliedrigen Schulsystems gewonnen werden können. Die Analyse beschränkt sich nicht auf die amtliche Systembeschreibung, sondern nimmt die Entwicklung der regionalen und lokalen Angebotsstrukturen sowie die dort relevanten Akteure in den Blick. Aus der Perspektive langfristiger historischer Prozesse wird die Prognose erläutert, dass es ein zweigliedriges Sekundarschulangebot nur in besonderen lokalen Konstellationen sowie als Zwischenschritt zu einem Schulsystem geben wird, das in Kleinstädten aus integrierten und teilintegrierten Schulformen und in Großstädten aus einem breit ausdifferenzierten Angebotsspektrum von Sekundarschulen besteht.
Schlagworte: Zukunft des Schulsystems, historische Schulentwicklung, Schulgliederung, Pfadabhängigkeit, Bildungsverfassungsrecht
Benjamin Edelstein/Rita Nikolai
Strukturwandel im Sekundarbereich
Determinanten schulpolitischer Reformprozesse in Sachsen und Hamburg
In vielen Bundesländern wurden in den letzten Jahren tiefgreifende Schulstrukturreformen vollzogen. Bislang fehlt es allerdings an theoriegeleiteten Analysen, die die Determinanten dieser Reformen offenlegen und Länderunterschiede erklären. Dieser Beitrag zeigt, wie neoinstitutionalistische Konzepte für die Analyse der Persistenz von Bildungsinstitutionen ebenso wie für die Analyse ihres Wandels gewinnbringend eingesetzt werden können. Unsere Prozessanalysen zu Sachsen und Hamburg zeigen, dass schulstrukturelle Reformprozesse als pfadabhängig charakterisiert werden können. In beiden Ländern entstanden spezifische Möglichkeiten bzw. Zwänge für institutionellen Wandel durch ein partielles Schwinden der „Reproduktionsmechanismen“ der jeweils tradierten Schulstruktur.
Schlagworte: Pfadabhängigkeit, institutioneller Wandel, Strukturreform, Zweigliedrigkeit, Bundesländer
Tilman Drope/Anne Jurczok
Weder gleichwertig noch gleichartig
Besonderheiten und Problemlagen Integrierter Sekundarschulen in einem sozio-ökonomisch schwachen Stadtteil Berlins
Seit dem Schuljahr 2010/2011 gibt es in Berlin ein zweigliedriges Schulsystem aus Gymnasien und Integrierten Sekundarschulen. Auf der Grundlage von im Rahmen eines ethnografisch orientierten Forschungsprojektes gesammelten Daten untersucht dieser Beitrag die Wahrnehmung der Umstellung und die daraus resultierenden Anforderungen in einem sozio-ökonomisch schwachen Berliner Stadtteil. Dabei zeigt sich, dass die bildungspolitisch wiederholt geäußerte Gleichwertigkeit beider Schulformen, die vor allem mit der prinzipiellen Möglichkeit des Erwerbs der Hochschulreife begründet wird, in erster Linie von den Bedingungen einzelner Standorte abhängig ist.
Schlagworte: Bildungsraum, Ethnografie, Schulstrukturreform, Schulwahl, soziale Segregation
Peter Drewek
Das dreigliedrige Schulsystem im Kontext der politischen Umbrüche und des demographischen Wandels im 20. Jahrhundert
Die Entwicklung des dreigliedrigen Schulsystems wird am Beispiel Berlins im Kontext der politischen Umbrüche von 1918, 1945 und 1989 und der dabei periodisch wiederkehrenden Phasen starken Schülerrückgangs untersucht. Während der relative Schulbesuch an Gymnasien in diesem Zusammenhang jeweils sprunghaft anstieg, waren Volks- und Hauptschulen am stärksten von rückläufigen Schülerzahlen betroffen. Die Erhöhung des Schulbesuchs an Gymnasien war eingebettet in Prozesse politisch vermittelter Bildungsmobilisierung und der Entwertung von Schulabschlüssen unterhalb des Abiturs und wurde verstärkt durch Selbsterhaltungsstrategien der Gymnasien. Aufgrund der auch demographisch initiierten Expansion der Gymnasien bei gleichzeitiger Marginalisierung der Volks- bzw. Hauptschulen wurden die dem dreigliedrigen Schulsystem zugeschriebenen Kanalisierungseffekte seit den 1960er Jahren zunehmend unterminiert.
Schlagworte: Bildungsexpansion, dreigliedriges Schulsystem, Mittelschule, demographische Entwicklung, Bildungsnachfrage
Deutscher Bildungsserver – www.bildungsserver.de
Linktipps zum Thema „Zweigliedrigkeit: Strukturwandel des Schulsystems??“
Alfred Schäfer
Umstrittene Kategorien und problematisierende Empirie
Bei aller strategischen Entgegensetzung der scheinbar eindeutigen Kategorien von ‚Theorie‘ und ‚Empirie‘ haben beide doch ein Problem gemeinsam: das der Repräsentation. Damit ist nicht nur gemeint, dass sprachliche Symbolisierungen nicht ‚der‘ Wirklichkeit entsprechen. Das Problem der Repräsentation zeigt sich vor allem und darüber hinaus darin, dass ein System ‚fester‘ Bedeutungen weder durch philosophische Begründung noch durch den Glauben an eine empirische Wahrheit zu erreichen ist. Es zeichnet sich dann ein Feld von Auseinandersetzungen ab, in dem kategoriale und empirische Einsätze einen strategisch-politischen Status erhalten. Es wird zu zeigen versucht, dass eine solche Sichtweise nicht nur die strategisch verfestigten Wagenburgen von ‚Theorie‘ und ‚Empirie‘ in der Erziehungswissenschaft in Bewegung zu bringen, sondern auf beiden ‚Feldern‘ auch produktiv zu wenden vermag.
Schlagworte: Repräsentationsproblem, hegemoniale Artikulationspraktiken, Wahrheitsregime, dekonstruktive Diskursanalyse, Hirndoping
Martin Rothland
Das Sabbatjahr für Lehrerinnen und Lehrer: Wer profitiert und in welcher Form?
Das Sabbatjahr für Lehrerinnen und Lehrer wird programmatisch als Maßnahme der Belastungsreduktion, der Regeneration sowie der Ressourcenstärkung diskutiert. Empirische Belege für die erwarteten Effekte finden sich jedoch kaum. Im Rahmen einer Längsschnittstudie mit drei Erhebungszeitpunkten vor, während und nach dem Sabbatjahr werden die Entwicklung der Belastungswahrnehmung, des Gesundheitszustands und allgemeiner sowie arbeitsbezogener Emotionen (Berufs- und Lebenszufriedenheit) auf der Basis einer Stichprobe von 126 Lehrkräften erfasst. In den Ergebnissen zeigt sich im Verlauf des Sabbatjahrs eine Verbesserung des Gesundheitszustands, eine Reduktion der Belastungswahrnehmung sowie eine Steigerung der Lebens-, weniger hingegen der Berufszufriedenheit. Die möglichen Effekte der langfristigen Unterbrechung der Berufstätigkeit beschränken sich jedoch weitgehend auf die Freistellungsphase selbst, während sich die Prä- und Posttestwerte vor und nach dem Sabbatjahr in der Regel nicht signifikant unterscheiden. Zudem zeigt sich, dass die Wirkung des Sabbatjahrs von der Erholungsbedürftigkeit der Nutzer abhängt. Als Moderatoren der Wirkung des Sabbatjahrs für Lehrerinnen und Lehrer werden das Geschlecht, die allgemeine Selbstwirksamkeit und die Lehrerselbstwirksamkeit sowie das arbeitsbezogene Verhalten und Erleben (AVEM) berücksichtigt. Konsequenzen für die Gestaltung des Lehrer-Sabbatjahrs werden diskutiert.
Schlagworte: Sabbatjahr, Lehrerberuf, Erholung, Lehrergesundheit, Lehrerbelastung
Miriam Leuchter
Die Bedeutung des Spiels in Kindergarten und Schuleingangsphase
Der vorliegende Artikel untersucht Spiel als Lernerfahrung von Kindern und geht der Frage nach, warum der lerntheoretische Diskurs des Kinderspiels stark von einem normativen Diskurs überlagert wird. Die kurzen Darstellungen von Spielbegriff, Spieltypen und Spielfunktionen im ersten Abschnitt bilden eine Grundlage für die Diskussion der Bedeutung des Spiels. Im Anschluss an die entwicklungspsychologische Sicht auf das Spiel als Entwicklungs- und Lernmotor werden Studien erörtert, die bereichsübergreifende und bereichsspezifische Bildungswirkungen unter Einbezug von Merkmalen des Spiels erforschen; sodann wird das Spiel in ein Angebots-Nutzungsmodell integriert. Darauf folgt die Diskussion verschiedener Faktoren, welche die Bildungswirkungen des Spiels und deren Wahrnehmung beeinflussen. Dies ermöglicht, die normative gesellschaftliche Debatte zur Bedeutung des Spiels vertiefend zu analysieren.
Schlagworte: Bildung im Kindesalter, Spiel, Lernen, Einstellungen, Bildungswirkungen
Erziehungswissenschaftliche Habilitationen und Promotionen 2012