Zeitschrift für Pädagogik - Inhaltsverzeichnis

Jahrgang 49 – Heft 5 – September/Oktober 2003

Essay

Ulrich Herrmann
„Bildungsstandards“ – Erwartungen und Bedingungen, Grenzen und Chancen

„Bildungsstandards“, „Kerncurricula“, „Kompetenzmodelle“, „Schulautonomie“, „Schulevaluation“, „von der Input- zur Output-Steuerung“ – so lauten wichtige Schlagworte der derzeitigen bildungs- und schulpolitischen Debatte, und je nach Diskussionszusammenhang findet jeder sein „Patentrezept“ bzw. sein „Allheilmittel“, wo doch jahrzehntelang „gar nichts ging“. Offensichtlich hat die PISA-Studie in der Bundesrepublik seit langer Zeit zum ersten Mal wieder eine Bildungsdebatte ausgelöst, bei der die Beteiligten tatsächliche Veränderungen auf denWeg bringen wollen (Roeder 2003; Ingenkamp 2002).

 

Allgemeiner Teil

Peter H. Ludwig
Partielle Geschlechtertrennung – enttäuschte Hoffnungen? Monoedukative Lernumgebungen zum Chancenausgleich im Unterricht auf dem Prüfstand

In der neuen Koedukationsdebatte ist die ursprünglich diskutierte bzw. vertretene Generalthese der Mädchenbenachteiligung durch gemischt-geschlechtliche Schulen weitgehend durch die Ansicht ersetzt worden, eine zumindest phasen- und fächerbezogene Teilaussetzung der Koedukation trage zur Chancengleichheit bei. Bildungspolitische Initiativen gehen von der Wirksamkeit der partiellen Monoedukation als eine der populären Ausgleichsmaßnahmen im Rahmen der „reflexiven“ bzw. „differenzierten“ Koedukation aus. Dennoch vermag eine Durchsicht klassischer und neuerer Studien kaum belastbare empirische Belege für diese moderatere koedukationsskeptische Haltung zu liefern.

Jürgen Raithel
Mutproben im Übergang vom Kindes- ins Jugendalter. Befunde zu Verbreitung, Formen und Motiven

Im Mittelpunkt des Beitrags stehen empirische Befunde des bisher kaum beachteten kindheits- und jugendtypischen Verhaltensbereichs der Mutproben. Auf der Grundlage einer repräsentativen Studie für Nordrhein-Westfalen bilden 1.050 Kinder und Jugendliche zwischen 9 und 17 Jahren die Analysestichprobe. Als die am mutprobenaktivste Altersgruppe haben sich die 11-jährigen Kinder herausgestellt. Die Jungen praktizierten insgesamt fast doppelt so viele Mutproben wie die Mädchen. Die offen abgefragten Mutproben konnten vier Typen zugeordnet werden. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede in den einzelnen Mutprobenvarianten werden in Hinsicht auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen diskutiert.

JürgenWiechmann
Der Wissenstransfer von Innovationen – die Perspektive der Schulen als aktive Handlungseinheiten

Eine breitenwirksame Schulentwicklung unter dem Paradigma der aktiven Wissensnutzung setzt den Wissenstransfer von Innovationen in der Breite des Schulwesens voraus. In dem vorliegenden Beitrag werden zum einen auf der Basis von 402 allgemeinbildenden Schulen unterschiedliche Wege des Wissenstransfers dokumentiert. Zum anderen werden die Wirkungen unterschiedlicher Einflussfaktoren auf die Nutzung dieser Wege untersucht.

Michiel Kagchelland/Raf Vanderstraeten
Die Anfänge der protestantischen Erweckung in den Niederlanden: Religionspädagogische Deutungen der Hochwasserkatastrophe von 1825

Im 19. Jahrhundert fand eine Erweckung des Protestantismus statt. Die Erweckungsbewegungen betonten die Souveränität Gottes und die menschliche Verdorbenheit. Wir analysieren die Anfänge der Erweckung in den Niederlanden anhand des Büchleins eines Missionaren, das eine große Zahl von Reaktionen auslöste. Der Verfasser beschrieb die Hochwasserkatastrophe, die im Februar 1825 das Gebiet der Nordseeküste traf, als die Strafe eines erzürnten Gottes. Er meinte, dass man den Zorn Gottes nur abwehren könnte, wenn man sich vor ihm demütige. Die Rekonstruktion dieses Diskurses erlaubt eine Analyse der kulturellen und religiösen Wertemuster, die sich während der Anfangsphase der Erweckungsbewegung entwickelten, und die seit ca. 1830 die Strukturmuster der niederländischen Gesellschaft grundsätzlich beeinflussen (Stichwort: Versäulung). Auf diese Weise können wir das ‚pädagogische‘ Verhältnis zwischen Religion undWelt erläutern.

Marc Depaepe/Frank Simon
Freiluftschulen: eine historisch-pädagogische Randerscheinung als Reflex sozial-historischer Modernisierungsprozesse? Das Beispiel Belgiens

Historische Studien zu Freiluftschulen – ein stark vernachlässigtes Gebiet – sind zum großen Teil beeinflusst vom Eigendiskurs überzeugter Anhänger der Freiluftbewegung. So lässt sich leicht die Annahme herausfiltern, dass Freiluftschulen Laboratorien schulischer Experimente waren und dass sich ihre Lehrmethoden ohne weiteres der progressiven Bildung zuordnen ließen. Die Autoren dagegen gehen von einem komplexeren Verhältnis von Unterrichtsraum und Unterrichtsakt, von „traditioneller“ und „progressiver“ Bildung aus. Anhand des belgischen Beispiels (erste Hälfte des 20. Jahrhunderts) wird die bisherige Historiographie in Frage gestellt und die Annahme, Freiluftschulen hätten uneingeschränkt zur progressiven Erziehung beigetragen, neu überdacht. Ebenso wie die deutsche Literatur zur Reformpädagogik vertreten auch die Autoren die Ansicht, dass Freiluftschulen genauso „verschult“ waren wie „normale“ Schulen und sie keine wirkliche Alternative zum traditionellen Schulsystem darstellten. Sie hatten ihre Wurzeln in denselben Modernisierungs- bzw. Bildungsprozessen wie die traditionellen Schulen.

 

Diskussion

Heinz-Elmar Tenorth
Gefangen in der eigenen Tradition – Erziehungswissenschaft angesichts des Nationalsozialismus. Eine Sammelbesprechung neuerer Veröffentlichungen

Die jüngere wissenschaftshistorische Forschung, die hier diskutiert wird, belegt deutlicher als erwartet, wie nah sich auch die geisteswissenschaftliche Erziehungswissenschaft an der politischen Ideologie und am pädagogischen Denken des Nationalsozialismus platziert hat. Gestützt auf ein breites Spektrum an neu erschlossenen Quellen, wird für die Leitfiguren der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, vor allem für Nohl undWeniger, eine neue Sicht auf Distanz und Nähe ihrer Arbeit zum Nationalsozialismus eröffnet. Gleichzeitig wird, auch im Kontext weiterer Studien zum Thema, die Frage ungelöst zurückgelassen, an welchen Merkmalen sich überhaupt „nationalsozialistische“ Erziehungswissenschaft bzw. ein NS-typisches Erziehungsdenken identifizieren und Differenzen behaupten lassen.

 

Besprechungen

Klaus Prange
Hans-Uwe Otto/Thomas Rauschenbach/Peter Vogel (Hrsg.): Erziehungswissenschaft in Studium und Beruf. Eine Einführung in vier Bänden

Fritz Osterwalder
Barbara Friehs: Das amerikanische Schulwesen zwischen Marktideologie und staatlicher Verantwortung. Standardisierung, Privatisierung und Wettbewerb als Reformprogramm für das amerikanische Schulsystem

Ulrich Raiser
Werner Schiffauer/Gerd Baumann/Riva Kastoryano/Steven Vertovec (Hrsg.): Staat – Schule – Ethnizität. Politische Sozialisation von Immigrantenkindern in vier europäischen Ländern

Sigrid Blömeke
Lilian Fried: Pädagogisches Professionswissen und Schulentwicklung. Eine systemtheoretische Einführung in Grundkategorien der Schultheorie

Marcelo Caruso
Daniel Tröhler/Simone Zurbuchen/Jürgen Oelkers (Hrsg.): Der historische Kontext zu Pestalozzis „Methode“. Konzepte und Erwartungen im 18. Jahrhundert

 

Dokumentation

Pädagogische Neuerscheinungen