Jahrgang 52 – Heft 5 – September/Oktober 2006
Carola Groppe/Hans-Werner Fuchs/Gerhard Kluchert
Bildungssystem, Familie und Gesellschaft
Historische Analysen zur (Re-)Produktion von sozialer Ungleichheit
Zur Einleitung in den Thementeil
Klaus-Peter Horn
Bildungssystem, Familie und soziale Ungleichheit in historischer Perspektive
Forschungsstand und Problemaufriss
In dem Beitrag wird der Stand der Forschung zur historischen Entwicklung der sozialen Ungleichheit im Zusammenspiel von Familie und Bildungssystem herausgearbeitet. Dabei ergibt sich zunächst das Bild zweier parallel laufender Forschungsstränge: eine Makroperspektive auf die Schulentwicklung und eine Mikroperspektive auf die Familie. Wechselseitige Bezüge sind nur ansatzweise vorhanden. Diese gilt es aber zu entwickeln und in der Forschung zu Grunde zu legen, wenn wir etwas über das Verhältnis von Bildungssystem, Familie und sozialer Ungleichheit im historischen Prozess erfahren wollen.
Carola Groppe
Familienstrategien und Bildungswege in Unternehmerfamilien 1840–1920
Im Beitrag wird die Frage diskutiert, welche Bedeutung das Bildungssystem für die Unternehmer des 19. und frühen 20. Jahrhunderts im Zusammenhang von Statuserhalt und Berufsvererbung besaß. Es zeigt sich, dass die Bildungsbeteiligung der Unternehmer an den höheren Bildungseinrichtungen einerseits kontinuierlich stieg, andererseits aber Bildungspatente kaum als Einstieg in das Unternehmertum fungierten. An Fallbeispielen wird deutlich, dass die Unternehmer im Rahmen der verfolgten Familienstrategie der Nachfolgesicherung auf die Wahl des richtigen Schultyps (Realschulen) angewiesen waren und diese in gelingenden Fällen mit einer auf die Nachfolgeplanung abgestimmten Familienerziehung koordiniert hatten. Eine humanistische Gymnasialbildung konnte, verband sie sich zusätzlich mit besonderen familialen Konstellationen, zum Ausstieg aus dem Unternehmertum führen.
Gerhard Kluchert
Schule, Familie und soziale Ungleichheit in Zeiten der Bildungsexpansion
Das Beispiel der Weimarer Republik
Die Zeit der Weimarer Republik ist gekennzeichnet durch eine bemerkenswerte Bildungsexpansion und eine – wenn auch begrenzte – soziale Öffnung der höheren Bildungseinrichtungen. In Auswertung von Abiturientenlebensläufen einer höheren Schule in Potsdam geht der Beitrag der Frage nach, welche Gründe für die Erweiterung der Bildungsaspirationen und -karrieren bei den Heranwachsenden aus den unteren sozialen Schichten in dieser Zeit maßgeblich waren. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass es angesichts knapper familiärer Ressourcen einer Bündelung von Faktoren bedurfte: Neben günstigen wirtschaftlichen und schulstrukturellen Voraussetzungen gehörten dazu die familiäre Unterstützung, das Angebot der Schule – auch im außerunterrichtlichen Bereich – sowie die Jugendbewegung, die – in Verbindung mit der Schule – einen Raum zur Enkulturation und zur Aneignung eines bildungsbürgerlichen Habitus bereit stellte.
Detlef K. Müller
Soziale Reproduktionsstrategien und Mechanismen sozialen Aufstiegs – Thema verfehlt!
Kommentar zu den Beiträgen von Carola Groppe und Gerhard Kluchert
Rüdiger Loeffelmeier
Die Bedeutung von Familie und Schule für die Bildungswege Potsdamer Abiturienten in der frühen DDR
Zu den vorrangigen bildungspolitischen Zielen gehörten in der frühen DDR die Aufhebung der herkunftsbedingten Ungleichheit der Bildungschancen und die Schaffung einer neuen, Staat und Partei verpflichteten Elite. Dies implizierte eine deutliche Verringerung des familiären Einflusses auf Bildungsverhalten und -karriere. Der Beitrag zeigt am Fall einer Potsdamer Schule unter Nutzung vor allem von Abiturientenlebensläufen, wie die Chancenungleichheit tatsächlich verringert, Kinder aus „bildungsfernen“ Schichten zum Abitur geführt und – in Grenzen – auch politische Willfährigkeit erzeugt werden konnten. Er macht aber auch deutlich, dass der Einfluss der Familie keineswegs vollständig auszuschalten war und dass ihr gerade bei der Herausbildung einer neue Elite aus leistungsbereiten und politisch überzeugten „sozialistischen Persönlichkeiten“ zentrale Bedeutung zukam.
Hans-Werner Fuchs
Staatliche Eingriffe in den Zusammenhang von Bildungssystem, Familie und Gesellschaft in der Phase der Bildungsreform (1960er-/1970er-Jahre) und ihre Wirkung
Im Rückblick auf die westdeutsche Bildungsgeschichte erweisen sich die 1960er und 1970er-Jahre als Phase eines intensiven öffentlichen wie fachwissenschaftlichen Diskurses um Reformen im Bildungswesen. Überdies wurden in dieser Zeit vielfältige Veränderungen eingeleitet, deren wesentliches Ziel in einem quantitativen und qualitativen Ausbau des Bildungswesens bestand, der sich auch in einem Abbau bestehender Bildungschancenungleichheiten auswirken sollte. Der Bildungsexpansion folgte jedoch nur ein marginaler Abbau ungleicher Bildungschancen nach, dessen Ursachen abschließend diskutiert werden.
Peter Drewek
Zur Bedeutung und Rolle der Familie im Strukturwandel des deutschen Bildungssystems in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Kommentar zu den Beiträgen von Hans-Werner Fuchs und Rüdiger Loeffelmeier
Isabell Diehm
Intoleranz als Problem der Pädagogik
Eine systematische Beschäftigung mit dem Thema Intoleranz hat es in der Erziehungswissenschaft bislang nicht gegeben. In pädagogischen Programmatiken wird Intoleranz zwar häufig als ein soziales Problem thematisiert, das mit den Mitteln der Erziehung zu bekämpfen sei. Die pädagogischen Implikationen des Begriffs jedoch sind unanalysiert geblieben. In diesem Beitrag erfolgt in erziehungswissenschaftlicher Absicht eine erste Annäherung an die Fragen, die sich im Zusammenhang mit Intoleranz für die Pädagogik stellen. Ausgangspunkte bilden das Komplementärkonzept Toleranz und das Verhältnis von Intoleranz und Gewalt. Unter dem Eindruck aktueller politischer Erwartungen sieht sich die Pädagogik gezwungen, ihre Haltung zur Intoleranz neu zu bestimmen. Für die Erziehungswissenschaft erwächst daraus eine fruchtbare Herausforderung.
Henning Röhr
Reflektierte Intoleranz
Differenziert und angemessen auf schwierige Situationen zu reagieren gehört zu den zentralen Tugenden jedes pädagogischen Handelns. Diese ist besonders dann gefragt, wenn das pädagogische Handeln, allgemein gesprochen, die Form der Ablehnung oder Zurückweisung annimmt. Den in der Pädagogik anerkannten Formen der Ablehnung, wie der Kritik, dem Setzen von Grenzen und der Ahndung von Regel- und Gesetzesverstößen, ist, so die hier vertretene These, noch die der reflektierten Intoleranz hinzuzufügen. In diesem Beitrag wird erläutert, worin sie besteht und wie sie sich zu einer gängigen Bestimmung der Toleranz und einer ihr diametral entgegengesetzten Bestimmung der Intoleranz verhält. Anhand zweier Beispiele (Kopftuch-Problematik und abweichendes Verhalten von Kindern) wird das Konzept der reflektierten Intoleranz auf seine praktische Relevanz hin geprüft.
S. Karin Amos
Zero Tolerance an öffentlichen Schulen in den USA
Amerikanisches Syndrom oder Symptom für eine Neubestimmung gesellschaftlicher Mitgliedschafts- und Erziehungsverhältnisse?
Moderne (öffentliche) Bildungssysteme sind zentrale Institutionen des Nationalstaats. Als solche antizipieren und simulieren sie im Verhältnis Lehrer/Erzieher – Zögling, strukturell bedeutsame Aspekte des Verhältnisses, das der Staat mit seinen Bürgern eingeht. Daher ist die universale öffentliche Massenbildung ein Inbegriff der Mitgliedschaftskonstitution in modernen Gesellschaften. Auf dieser Ebene (allgemeine Schulpflicht) ist demzufolge schulischer Ausschluss nicht vorgesehen. Schulischer Ausschluss in größerem Umfange ist bislang eine Folge des Organisationshandelns von Schule. Mit der Einführung der auf zentraler Ebene verordneten „Null-Toleranz“-Politik im amerikanischen Bildungssystem sind schulische Ausschlüsse vor dem Hintergrund der analytischen Unterscheidung in Legitimations- und Organisationshandeln nicht mehr, wie in früheren Zeiten, als negatives Indiz für die zukünftigen Inklusionschancen in die gesellschaftlichen Teilsysteme zu betrachten; sie sind vielmehr symptomatisch für Verwerfungen in der Mitgliedschaftskonstruktion.
Irina Mchitarjan
Das „russische Schulwesen“ im europäischen Exil und der bildungspolitische Umgang mit ihm in Deutschland, der Tschechoslowakei und Polen (1918–1939)
Die übergeordnete Fragestellung dieses Beitrags lautet, von welchen Faktoren die Bildungspolitik für ethnische Minderheiten bestimmt wird. Diese Frage wird am Beispiel des russischen Emigrantenschulwesens und des bildungspolitischen Umgangs mit ihm in verschiedenen Ländern Europas in den 1920er und 1930er-Jahren untersucht. Das Hauptergebnis der Studie ist: Schulpolitik für Minderheiten hängt nicht primär von den ethnischen Merkmalen oder dem Rechtsstatus der Minderheiten ab. Entscheidend scheinen vielmehr die (außen-)politischen und wirtschaftlichen Interessen der Mehrheitsgesellschaft zu sein sowie die vergangene historische Interaktion zwischen den beteiligten Mehr- und Minderheitengruppen.
Claudia Schuchart
Uwe Schmidt (Hrsg.): Übergänge im Bildungssystem. Motivation – Entscheidung – Zufriedenheit
Klaus Prange
Rainer Winkel: Am Anfang war die Hure. Theorie und Praxis der Bildung oder: Eine Reise durch die Geschichte des Menschen – in seinen pädagogischen Entwürfen
ChristineWiezorek
Vera King/Karin Flaake (Hrsg.): Männliche Adoleszenz. Sozialisation und Bildungsprozesse zwischen Kindheit und Erwachsensein
Pädagogische Neuerscheinungen