Jahrgang 53 – Heft 5 – September/Oktober 2007
Roland Reichenbach/Philippe Foray
Vorbemerkungen zum Thementeil
Friedhelm Brüggen
Autorität, pädagogisch
Die pädagogische Tradition hat Autorität nie ernsthaft in Frage gestellt. Seit der Entstehung der Pädagogik als eigenständige Theorie und Wissenschaft im 18. Jahrhundert hat sie aber stets mit einem Konzept limitierter Autorität operiert, das deren schrittweise Zurücknahme mit zunehmender Partizipation und Mitwirkung zu verbinden suchte (1). Dabei zeigt sich, dass pädagogische Autorität kein privates Phänomen ist, sondern auf Öffentlichkeit und öffentliches Leben verweist. Gerade dieser Bezug zeigt aber auch, dass Autorität zwar Herrschaft und Zwang ausschließt, gleichwohl aber ohne Macht nicht gedacht werden kann. Weder ein soziologisches noch ein politiktheoretisches Verständnis von Macht können diesen Zusammenhang befriedigend erfassen (2). Ein Blick auf die Gegenwart zeigt, dass Autorität zwar abstrakt negiert, aber nicht wirklich geleugnet werden kann (3).
Philippe Foray
Autorität in der Schule
Überlegungen zu ihrer Systematik im Lichte der französischen Erziehungsphilosophie
Der Beitrag präsentiert einige zentrale theoretische Überlegungen, die im französischen erziehungsphilosophischen Diskurs zum Thema Autorität in der Schule vorgebracht worden sind. Es werden vier für den schulischen Zusammenhang bedeutsame Autoritätskonzepte diskutiert und verglichen: a) die pädagogische Autorität, verstanden als Möglichkeit, die Schüler zum Arbeiten in der Schulklasse zu veranlassen, b) die disziplinierende Autorität, verstanden als Macht, Grenzen zu setzen, c) die Status- oder Amt sautorität, die aus dem Zusammenspiel der Kompetenzen und Verantwortlichkeiten besteht, die der Rolle der Lehrperson gesellschaftlich zugeschrieben wird, und d) die unpersönliche Autorität der Kultur , welche von der älteren an die jüngere Generation weiter gegeben wird. Die Untersuchung ignoriert die Infragestellungen der Autorität in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht, sondern nimmt sie vielmehr zumAnlass, um zwischen kontingenten Momenten des Rekurses auf Autorität und den Möglichkeiten und Notwendigkeiten, das Autoritätskonzept an den modernen Individualismus anzupassen, zu unterscheiden, und auch um der Frage nachzugehen, inwiefern Autorität nicht einfach eine Konstante der pädagogischen Praxis darstellt.
Denis Kambouchner
Pädagogische Autorität und die Sinnkrise des schulischen Lernens
Der Beitrag untersucht die Beziehung zwischen der „krisenhaften“ Situation, in welcher sich die pädagogische Autorität befindet, und den kollektiven Repräsentationen des Wissens, der kulturellen Normen und dem „Preis“ ihrer Aneignung und der Werte, die damit zumAusdruck kommen. Die deutlichsten Indizien für die Krise der pädagogischen Autorität zeigen sich im Unterricht auf der Sekundarstufe, deren Fachlehrer alltäglich mit Gleichgültigkeit, mangelndem Respekt und aggressivem Verhalten auf Seiten der Schülerschaft zu kämpfen haben. Der Beitrag kreist um die zentrale Frage, wie und unter welchen Bedingungen in unseren Gesellschaften die intellektuellen und allgemein anerkannten kulturellen Normen in den schulischen Institutionen, insbesondere im Unterricht der Sekundarstufe, ohne welche die Wirksamkeit der Bildungssysteme nicht sicher gestellt ist, gestärkt und aufrecht erhalten werden können.
Roger Monjo
Pädagogische Autorität: Unsicherheiten undWidersprüche
Eine Auseinandersetzung mit Alain Renaut und MyriamRevault d’Allonnes
Die französische Philosophie hat sich der Frage der Autorität angenommen und nimmt dabei durchaus radikale Positionen ein, indemsie entweder das „Ende der Autorität“ oder deren Neubegründung postuliert. Im Gegensatz zu phänomenologischen oder hermeneutischen Ansätzen, die mehrere Facetten – beispielsweise erzieherischer – Situationen aufzeigen, in denen Autorität zumEinsatz kommt, ist das philosophische Denken von einer gewissen Einseitigkeit bestimmt. Angesichts der zaghaften, ratlosen und widersprüchlichen Schlussfolgerungen, zu denen die in diesem Artikel vorgestellten philosophischen Beiträge kommen, wird deutlich, dass es der Philosophie in Zukunft weniger darum gehen kann, Abgesänge oder Loblieder auf die Autorität anzustimmen, als darum, die Voraussetzungen für das Nachdenken über Autorität neu abzustecken.
Roland Reichenbach
Kaschierte Dominanz – leichte Unterwerfung
Bemerkungen zur Subtilisierung der pädagogischen Autorität
Autoritätsverhältnisse sind Anerkennungsverhältnisse (Sofsky/Paris 1994); anerkannte Autoritäten können größtenteils auf autoritäres Verhalten verzichten (Arendt 1994), da sie im Bereich des Handelns und Verhaltens „Gehorsam“ und im Bereich des Wissens „Glauben“ erwarten können. Dies ist rollentheoretisch und austauschtheoretisch rekonstruierbar. Die relevanten Anerkennungsleistungen sind insbesondere im pädagogischen Bereich fragil und in Lebensverhältnissen mit ausgeprägt „demokratischemEthos“ Folge subtiler Anpassungsstrategien – auf allen Seiten der Beteiligten. „Subtil“ sind diese Leistungen, weil die Unterscheidung zwischen strukturell superioren und strukturell inferioren Positionen (der pädagogischen Asymmetrie) nicht notwendig mit der Unterscheidung zwischen mächtigen und ohnmächtigen Positionen zusammenfällt. Wer aus welchen Gründen und wie legitim oder nicht auch immer Macht über andere „besitzt“, muss in der Regel weder Zwang noch Gewalt einsetzen, aber es muss ihm oder ihr unter den Bedingungen der symmetrischen Moral (der wechselseitigen Anerkennung) gelingen, die im Führungsbereich immer nötigen Dominanzmanöver mit so subtil wie nötigen Kommunikationsformen und Sprechakten zu kaschieren, dass die mehr oder weniger offensichtlichen Unterwerfungsleistungen für jene, die sie zu zeigen haben (meinen), akzeptierbar sind.
Deutscher Bildungsserver
Linktipps zumThema „Pädagogische Autorität“
Manuela Pietraß
Der Zuschauer als Voyeur oder als Opfer?
Zur Problematik realitätsnaher Gewalt im Film
Eine durch den Rezipienten vorgenommene Trennung von Wirklichkeitsebenen und der souveräne Umgang mit vielfältigen Medienwirklichkeiten sind wesentlich für die Vermeidung negativer Sozialisationseffekte durch Medien. Die Problematik realistisch gestalteter Gewalt im Film begründet sich im Spannungsverhältnis von Fiktionalität bei gleichzeitig veranschaulichter Potenzialität des Geschehens. Insofern findet hier eine Annäherung von fiktionaler an nonfiktionale Wirklichkeitsebene statt. Für die Untersuchung von Sozialisationseffekten aufschlussreich sind die inneren Rezeptionsaktivitäten, die emotionalen und kognitiven Prozesse – doch gerade diese sind empirisch schwer zugänglich. Die rahmenanalytische Vorgehensweise ermöglicht es, die Verarbeitungsweisen der Rezipienten in Zusammenhang mit dem Filmangebot zu betrachten. Am Beispiel des Filmes „Irreversibel“ wird eine solche Analyse durchgeführt. Es kann gezeigt werden, dass die im Film gewählte realitätsnahe Darstellungsweise dem Zuschauer eine interessierte und bejahende Haltung der gezeigten Gewalt gegenüber nahe legt, der er nur entgehen kann, wenn er Gewalt gegenüber ablehnend eingestellt ist.
Silke Schreiber-Barsch/Christine Zeuner
international – supranational – transnational?
Lebenslanges Lernen im Spannungsfeld von Bildungsakteuren und Interessen
Der Beitrag setzt sich mit dem Gegenstand des Lebenslangen Lernens aus der Perspektive des internationalen Spannungsfeldes von Bildungsakteuren und Interessen auseinander. Eine Systematisierung der international rezipierten Schlüsselkonzepte Lebenslangen Lernens und der ihnen inhärenten Leitmotive wie Akteursinteressen bildet den Ausgangspunkt, um anhand des gegenwärtigen Bedingungsgefüges des internationalen Bildungsraumes aktuelle Einflusskräfte auf die Auseinandersetzung um Lebenslanges Lernen – wie die zunehmende Implementierung europäisch bzw. global definierter Standards und Benchmarks – kritisch zu diskutieren.
Rudolf Tippelt
Ausgewählte pädagogische Lemmata und ihre bildungspolitischen Konnotationen
Kathrin Dedering
ManfredWeiß (Hrsg.): Evidenzbasierte Bildungspolitik
Justin J.W. Powell
Brigitte Kottmann: Selektion in die Sonderschule
Cristina Allemann-Ghionda
Rosarii Griffin (Hrsg.): Education in the MuslimWorld
Klaus Prange
Werner Korthaase/Sigurd Hauff/Andreas Fritsch (Hrsg.): Comenius und der Weltfriede
Christian Niemeyer
Ulrich Herrmann (Hrsg.): „Mit uns zieht die neue Zeit ...“
Erziehungswissenschaftliche Habilitationen und Promotionen in 2006. Ein Nachtrag
Pädagogische Neuerscheinungen