Historische Bildungsforschung – Innovation und Selbstreflexion

Jane Schuch/Heinz-Elmar Tenorth/Nicole Welter
Historische Bildungsforschung – Innovation und Selbstreflexion
Einführung in den Thementeil

Marcelo Caruso
Technologiewandel auf dem Weg zur „grammar of schooling“
Reform des Volksschulunterrichts in Spanien (1767–1804)

Der Beitrag problematisiert in historischer Perspektive den Begriff einer „grammar of schooling“, einer Grammatik der Schularbeit, die auf vermeintlich unhintergehbare Bestandselemente der modernen Schule hinweist. Mit Hilfe dieses Begriffes wird das Scheitern von ambitionierten Bildungsreformen in der bildungshistorischen Literatur erklärt. Anhand einer Untersuchung von technologischem Wandel in spanischen Elementarschulen zu Ende des 18. Jahrhunderts wird hingegen die These vertreten, dass diese Grammatik selbst historisch produziert werden musste, und dass die Bestimmung von Veränderungen auf der Ebene der Unterrichtstechnologien nicht in der Codierung von Erfolg und Scheitern erfolgen darf. Damit werden neue historiographische Perspektiven im Bereich einer Technologiegeschichte der Schulbildung gezeigt.

Friederike Kuster
Anordnungen der Natur – Grundlagen der Geschlechtererziehung bei Rousseau

Rousseaus Kulturkritik führt ihn in den 1760er Jahren konsequenterweise zum Entwurf eines umfassenden gesellschaftlichen Reformprogramms. Dies erstreckt sich auf ein Bildungskonzept, auf Leitideen für das Verhältnis der Geschlechter und Generationen und auf die Formulierung staatsrechtlicher Prinzipien. Rousseaus demokratischer Republikanismus stützt sich auf Voraussetzungen, die in der Ordnung der Geschlechter und der Familie wurzeln. Im Gegensatz zur klassischen Abwertung des Hauses gegenüber dem Staat, erfährt mit Rousseau die Privatsphäre eine wesentliche Aufwertung. Eine zentrale Rolle kommt dabei der Erziehung der Mädchen in Hinblick auf die Rolle der Frauen als Bürgerinnen zu. Im „Émile“ unternimmt Rousseau den Versuch, die Begründung des sittlichen Verhältnisses der Geschlechter aus „Anordnungen der Natur“ zu leisten.

Rita Hofstetter/Bernard Schneuwly
Erziehungswissenschaft als Gegenstand der Historiographie
Eine Disziplin im Spannungsgebiet disziplinärer, professioneller und lokaler/(inter)nationaler Felder

Im ersten Teil des Beitrages werden theoretische und methodische Begriffe und Arbeitshypothesen erarbeitet, um die Entstehung und Entwicklung eines disziplinären Feldes wie die Erziehungswissenschaft zu beschreiben und zu verstehen, das sich in engster Verbindung mit den sozialen und beruflichen Bezugsfeldern entwickelt und als pluridisziplinär verstanden werden kann. Im zweiten Teil werden die Begriffe und Hypothesen am konkreten Falle der Entwicklung der Erziehungswissenschaft in der Schweiz überprüft. Hier kreuzen sich verschiedene akademische Traditionen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu unterschiedlichen Entwicklungen der Erziehungswissenschaft führen. Drei kontrastierende Konfigurationen werden bestimmt, deren Unterschiede durch kulturelle und lokale Faktoren erklärt werden.

Eckhardt Fuchs
Historische Bildungsforschung in internationaler Perspektive: Geschichte – Stand – Perspektiven

Der Aufsatz gibt einen Überblick über die Geschichte der historischen Bildungsforschung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Er stellt anhand der drei zentralen Etappen die jeweiligen Hauptakteure, zentralen Werke, institutionellen Kontexte und theoretisch-methodischen Debatten vor. Diesem historiographiegeschichtlichen Teil schließt sich die Darstellung des aktuellen Standes und wichtiger Trends an, wobei die Analyse auf der Auswertung der bildungshistorisch relevanten Fachzeitschriften aus aller Welt beruht. Der zentrale Befund besteht darin, dass die historische Bildungsforschung gegenwärtig einen anerkannten Bereich historischer Forschung darstellt, sich aber in einer institutionellen Krise befindet und nach einer neuen disziplinären Identität sucht.


Allgemeiner Teil

Jürgen Reyer/Diana Franke-Meyer
Vorschulreform und der wissenschaftliche Status der „Pädagogik der frühen Kindheit“ als Teildisziplin der Erziehungswissenschaft

Mit der ersten Vorschulschulreform in den 1970er Jahren entstanden nach semiakademischen Vorläufern die ersten Konturen einer Pädagogik der frühen Kindheit als Teildisziplin der Erziehungswissenschaft. Mit dem Ende der Reform stagnierte sie auf niedrigem Ausbaustand im disziplinären Gefüge der Sozialpädagogik. Mit der gegenwärtigen Vorschulreform stellt sich die Frage, ob die Pädagogik der frühen Kindheit von ihr profitieren und sich in Richtung einer teildisziplinären Eigenständigkeit weiterentwickeln und konsolidieren kann.

Georg Cleppien
Die Überforderung des Selbst in unternehmerischen Zeiten

In der Auseinandersetzung mit der Kritik Theodor Litts an der Vereinseitigung sowohl des humanistischen Bildungsideals als auch der wirtschaftlichen Forderung nach Führungspersönlichkeiten wird im Text vorgeschlagen, pädagogische Aufforderungen nicht einseitig als soziale Anforderungen zu lesen. In Anschluss an eine bereichslogische Lesart des pädagogischen Aufforderns wird deutlich gemacht, dass das auch von den „Gouvernementalitätsstudien“ kritisierte Problem in der Unnachgiebigkeit der sozialen Anforderung zu verorten ist. Eine mögliche Umdeutung in eine Anforderung besteht aber auch für die häufig formulierte Aufforderung, kritisch zu sein oder strategisch in den Diskurs einzugreifen. Der im Text angedeutete Vorschlag lautet demgegenüber, wachsam zu bleiben gegenüber der technizistischen Denkart und der Forderung „produktiv-zu-sein“, ohne in Anschluss an den gegenwärtigen Risikodiskurs „paranoid“ in jeder Aufforderung eine unbedingte Anforderung zu sehen.

Andreas Soltau/Malte Mienert
Unsicherheit im Lehrerberuf als Ursache mangelnder Lehrerkooperation?
Eine Systematisierung des aktuellen Forschungsstandes auf Basis des transaktionalen Stressmodells

Der vielfach beklagte Mangel an Lehrerkooperation1 in deutschen Schulen wird in der Forschungsliteratur u.a. mit der sog. Unsicherheit des Lehrerberufes erklärt. Dieser Artikel systematisiert die bisherigen Befunde der schulbezogenen Unsicherheitsforschung mittels des transaktionalen Stressmodells nach Lazarus (1991) und bietet so einen Einstieg in dieses, in der deutschsprachigen Forschung bislang unterrepräsentierte Themengebiet. Die Nützlichkeit dieses Unsicherheitsmodells für die Formulierung von komplexen Forschungshypothesen und die Interpretation von empirischen Daten wird an einer Reanalyse des PISA-2003 I PLUS Datensatzes exemplarisch aufgezeigt.

 

Besprechungen

Roland Reichenbach
Christiane Thompson/Gabriele Weiß: Bildende Widerstände – widerständige Bildung. Blickwechsel zwischen Pädagogik und Philosophie

Markus Bernhardt
Peter Gautschi: Guter Geschichtsunterricht. Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise

Veronika Magyar-Haas
Alfred Schäfer/Christiane Thompson (Hrsg.): Scham

Katharina Maag Merki
Sigrid Blömeke/Thorsten Bohl/Ludwig Haag/Gregor Lang-Wojtasik/Werner Sacher (Hrsg.): Handbuch Schule. Theorie – Organisation – Entwicklung 


Dokumentation

Pädagogische Neuerscheinungen