Thementeil: Rousseau 2012

Friedhelm Brüggen/Roland Reichenbach
Rousseau 2012
Einleitung in den Thementeil 

 

Andreas Brenner
Die Verkehrung der verkehrten Welt der Ethik
Rousseaus Beitrag zu einer impliziten Ethik 

Neben Benthams und Mills Utilitarismus und Kants Prinzipienethik entwickelt auch Rousseau im 18. Jahrhundert eine Ethik. Weil er diese, anders als seine prominenteren Kollegen, nicht explizit als solche kennzeichnet, sondern gleichsam en passant im Gewande eines Romans vorlegt, ist die Ethik Rousseaus als solche weitgehend unbeachtet geblieben. Die im vorliegenden Aufsatz erfolgte Lektüre der impliziten Ethik Rousseaus legt nicht nur die Schwächen der beiden bekannteren Ethiken, sondern spezifische Probleme der Aufklärungsethik im Allgemeinen bloß. Weiter zeigt die Rousseausche Ethik, dass die etablierte Gegenüberstellung von moderner vs. Klassischer Ethik zu kurz greift; außerdem erstaunt, dass der Genfer Pädagoge bereits im 18. Jahrhundert wichtige Vorarbeiten zu einer Theorie der Leiblichkeit entwickelt und avant la lettre eine Kritik der neuen Medien und der Virtualisierungstechniken erarbeitet.

 

Philippe Foray
Rousseau: Die Erziehung zwischen Natur und Politik 

In diesem Beitrag werden die Beziehungen zwischen dem „Pädagogischen“ und dem „Politischen“ im Werk Rousseaus geprüft, insbesondere hinsichtlich Émile (1762). Zunächst zeigt sich, dass diese beiden praktischen Bereiche menschlicher Tätigkeit relativ unabhängig voneinander zu sein scheinen: Émile ist keine Anwendung des Gesellschaftsvertrags auf den Bereich der Erziehung und umgekehrt ist Erziehung keine Alternative zur politischen Ohnmacht, d.h. Émile ist keine erzieherische Antizipation des Gesellschaftsvertrags. Im zweiten Teil aber zeigt die Analyse der Artikulation zwischen dem „Natürlichen“ und dem „Künstlichen“, dass Rousseau die beiden Bereiche in der gleichen Denkart strukturiert: die Vermittlung des „künstlichen Eingriffs“ ist immer notwendig, damit dem Naturgesetz sowohl in der Erziehung als auch in der Politik Folge geleistet werden kann.

 

Johannes Drerup
Rousseaus strukturierter Paternalismus und die Idee der wohlgeordneten Freiheit

In der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte diesseits und jenseits des Atlantiks verbreitete Lesarten deuten Émile einerseits als ein Plädoyer für ein totalitäres pädagogisches Überwachungssystem und andererseits als Apologie antiautoritärer oder libertärer Pädagogik. Diese Lesarten verfehlen bzw. missdeuten den Problemhorizont von Rousseaus Erziehungskonzeption. Rousseaus Erziehungsarrangements werden im Folgenden als eine perfektionistisch begründete Form des strukturierten Paternalismus rekonstruiert, die exemplifiziert, wie durch mit benevolenter Motivation eingesetzte Erziehungstechnologien Freiheit pädagogisch strukturiert und ermöglicht werden kann.

 

Alfred Schäfer
Figurationen des Pädagogischen und des Politischen
Rousseaus Kritik der sozialen Immanenz symbolischer Repräsentation 

Es ist der politisch-strategische Kampf um Bedeutungen, für den keine transzendenten Ruhepunkte mehr angenommen werden können, der für Rousseau die Grundlagen der Gemeinschaft wie auch der individuellen Identität untergräbt. Er wendet sich sowohl im ‚Émile‘ wie auch im ‚Contrat Social‘ gegen die ruinöse Logik solcher Bedeutungskämpfe und damit gegen eine bodenlos gewordene Repräsentation. Im ‚Émile‘ wird diese politische Problematik pädagogisch durch den Entwurf einer doppelt ansetzenden Gouvernementalität bearbeitet. Im Hinblick auf die (vorsoziale) Kindheit werden Probleme der Repräsentation und des sozialen Bedeutungskampfes ausgeschlossen; später wird auf eine privilegiert-normale Gouvernementalitätsstrategie gesetzt, die zumindest den Rückgriff auf eine ‚natürliche Bedeutung‘ zugleich relativiert und möglich erscheinen lassen soll. Im ‚Contrat Social‘, der den Selbstverlust der Individuen voraussetzt, wird der politische Raum durch das Legitimationskriterium einer nicht zu schließenden Differenz von ‚Allgemeinem Willen‘ und dem ‚Willen Aller‘ strukturiert. Auch hier bleibt nur das Spiel zwischen (transzendentaler) Grundlegung und den strategischen Auseinandersetzungen um das ‚Wahre‘.

 

Sieglinde Jornitz/Stefanie Kollmann
Pädagogisches Wissen in Bildern
Zum Bildprogramm der französischen Ausgaben des 18. Jahrhunderts von Rousseaus „Émile“ 

Aus Anlass der 250. Wiederkehr der Erstauflage von Rousseaus Werk „Émile oder über die Erziehung“ widmet sich der Text der Analyse seiner Illustrationen. Die französischen Ausgaben des 18. Jahrhunderts wurden mit Kupferstichen von unterschiedlichen Künstlern gestaltet. Dabei war das Bildprogramm der Erstausgabe des Jahres 1762 noch von Rousseau autorisiert, während die posthumen Auflagen dies nicht mehr waren und einen vollständigen Wechsel des Bildprogramms vollziehen. Diese beiden unterschiedlichen Bildprogramme werden analysiert und in den Kontext ihrer Druckgeschichte gestellt. Dabei zeigt sich, auf welche Art das pädagogische Hauptwerk Rousseaus bildlich illustriert wird.

   

Allgemeiner Teil

Melanie Billich-Knapp/Josef Künsting/Frank Lipowsky
Profile der Studienwahlmotivation bei Grundschullehramtsstudierenden 

In diesem Beitrag wird der Frage nachgegangen, ob einem personenzentrierten Ansatz folgend mit einer Latent-Profile-Analyse (LPA) Studienwahlmotivationsprofile bei Grundschullehramtsstudierenden am Anfang des Studiums gefunden werden können. Zur Erfassung der Studienwahlmotivation wurden sechs Skalen verwendet (s. Pohlmann & Möller, 2010). Anhand von N = 209 Grundschullehramtsstudierenden konnten im Ergebnis drei Profile identifiziert werden, die sich in ihrer Zustimmung zu intrinsischen und extrinsischen Komponenten der Motivation für die Wahl des Lehramtsstudiums unterscheiden. Studierende dieser drei Profile lassen sich charakterisieren als nutzenorientiert-pragmatische, motivational ausgewogene und vorrangig pädagogisch motivierte Grundschullehramtsstudierende. Im anschließenden Gruppenvergleich unterscheiden sich die Profile in weiteren motivational-affektiven und persönlichkeitsbezogenen Merkmalen. So sind z.B. die Lernbereitschaft, die Studienzufriedenheit und die Gewissenhaftigkeit bei den motivational ausgewogenen Studierenden am höchsten ausgeprägt.

 

Selma Haupt
Biologismus, Rassismus, Leistung
Zur „Integrations“-Debatte 

Anhand der „Integrations“-Debatte, die mit der Veröffentlichung von Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ im Sommer 2010 erneut an Intensität gewinnt, wird untersucht, wie der europäische Leistungsdiskurs in Verschränkung mit einem rassistisch-biologistischen Diskurs seine Wirkung entfaltet. Dass die Sicherung des „Standortes Deutschland“ nicht nur das zentrale Anliegen Sarrazins ist, wird in der Diskursanalyse der medialen „Integrations“-Debatte deutlich. Hier kristallisiert sich an der Figur der „muslimischen Migranten“ heraus, dass Leistung zwar als notwendige Bedingung für Integration postuliert wird, jedoch letztlich nicht hinreichend ist. Die Konstruktion des Anderen als Abgrenzungsfolie bleibt davon unberührt und ist immer einflussreicher.

 

Peter Kauder
Die Problematik der der „Zeitschrift für Pädagogik“ gemeldeten Promotionen und Habilitationen 

Das empirische Wissen, das die deutsche Erziehungswissenschaft über ihre Promotionen und Habilitationen besitzt, ist verbesserbar. Zwar stehen zwei Datenpools zur Verfügung – die von der DGfE herausgegebenen Datenreporte und die jährlich in der ZfPäd abgedruckten Listen –, aber hier wie dort sind Fehler und Lücken nachweisbar. Der Beitrag zeigt mit besonderem Schwerpunkt auf die ZfPäd nicht nur solche Fehler und Lücken auf, sondern setzt die Datenpools für bestimmte Zeiträume auch ins Verhältnis zueinander und macht Vorschläge zur Beseitigung der Mängel.

   

Besprechungen

Maja S. Maier
Matthias Trautmann/Beate Wischer: Heterogenität in der Schule. Eine kritische Einführung 

Roger Hofer
Alfred Schäfer/Christiane Thompson: Wissen 

Klaus Zierer
Andreas Gruschka: Verstehen lehren. Ein Plädoyer für guten Unterricht

  

Dokumentation

Pädagogische Neuerscheinungen